„Was bedeutet eigentlich Lagena?“ Der Vorbesitzer des 20er-Jollenkreuzers weiß es nicht. Aber der Erstbesitzer, von dem er das Boot vor fünf Jahren kaufte, wusste Bescheid. „Das soll angeblich eine wunderschöne karibische Muschel sein“, wusste der. Die Google-Suche bringt mehrere Definitionen von Lagena, aber keine wunderschöne karibische Muschel. Sondern unter anderem diese beiden hier: a) ein Hörorgan höherer Wirbeltiere und b) ein Eipilz.
Der mittlerweile verstorbene Erbauer und Erstbesitzer von Lagena hätte damals vor der Ersttaufe besser googeln sollen. Doch 1983 gab es noch gar kein Internet. Damals, im Sommer des letzten Jahres, wusste ich noch nicht, dass der Begriff Eipilz für einige Stellen des Boots ganz gut zutraf.

Freundliche Übernahme
Einige Wochen zuvor rief mich mein Freund Jens Brambusch an. Er hatte entschieden, Berlin zu verlassen, um sich in der Türkei eine Segelyacht zu kaufen. Ob ich die Lagena übernehmen möchte, fragte er mich ganz direkt. Ich war gerade auf der Suche nach einem Boot für Berliner Gewässer und dachte nicht lange nach: Ja, ich schaue sie mir gerne an.
Das einzige Problem, dass der 20er-Jollenkreuzer hatte, war das Schwert. Es war unterwegs auf dem Wasser verloren gegangen. Irgendwann schlingerte das Boot beim Segeln, und mein Freund sah neben sich im Wasser den zweitwichtigsten Teil des Lateralplans schwimmen. Um überhaupt nach Hause zu kommen, kappte er die Drahtseile. Seitdem liegt das Schwert irgendwo auf dem Grund eines Berliner Sees. Ein neues Schwert, dachte ich damals, ist ja kein Problem. Berlin ist voller Jollenkreuzer, und irgendwo wird man schon ein gebrauchtes Schwert finden. Oder eins für kleines Geld anfertigen lassen können.
Ein paar Tage später stand ich vor der Lagena im Schuppen eines Segelclubs im Osten Berlins. Staubig war sie, vollgestopft mit Ausrüstung, das Deck voll mit Hallenschmutz, Fendern und alten Leinen. Dazu stand die Lagena sehr wackelig auf einem flachen Hafentrailer. Sie gab ein etwas trauriges Bild ab. Aber unter der Staubschicht fand ich etwas, das mir die Entscheidung leicht machte: Charme. Dieses kleine Schiffchen hatte viel davon. Ich bekam Schlüssel, Baupläne, Seekarten und Unterlagen ausgehändigt und war wieder Bootsbesitzer. Mir gehört jetzt ein Eipilz, dachte ich. Sogar mit Einbaudiesel.

DDR meets Eigenbau
Lagena ist ein typischer Eigenbau aus der DDR. Das Boot wurde 1983 in einem Verein in Ostberlin gebaut. Der Bauplan ist für ein Stahlboot ausgelegt, es wurde aber in GFK laminiert, und der Aufbau ist teilweise aus Holz. Damals kamen wohl häufiger Formen und Materialien abhanden, gemäß der Devise „Aus unseren Betrieben ist noch viel mehr rauszuholen!“, die Erich Honecker zugeschrieben wird.
Mein 20er-Jollenkreuzer ist ein sogenannter Ernst-Riss, aus der Feder des legendären Konstrukteurs Manfred Ernst. Der Erbauer hat das Boot konsequent auf Wohnkomfort ausgerichtet. Der Aufbau ist besonders groß gewählt und bietet innen sehr viel Platz. Der Eigner muss ein echter Equipment-Freund gewesen sein, denn das Boot ist bestens ausgerüstet. Vom Pinnenpiloten über Einbaudiesel, vom Autoradio bis zu fünf (!) Ankern an Bord.

Früher, das habe ich später erfahren, wurde der Jollenkreuzer – wie damals üblich – mit einem Wartburg-Motor betrieben. Der wurde 1996 von einem Fachbetrieb ersetzt, und das Schiffchen bekam einen 14 PS starken Ruggerini-Diesel. Eine so starke Maschine würde wohl ausreichen, um im Polarkreis zu motoren. Leider wurde der neue Motor in die alte Peripherie gesetzt, ohne sie anzupassen. Anschlüsse, Seeventile, Schläuche und Kabel sind allesamt nicht aus dem Sektor Marinezubehör.
Lagena ist ein sogenannter „Flugzeugträger“. Der Name ist dem Tulpenbug geschuldet, der enorm viel Fläche aufs Vorschiff bringt. Es gibt sogar eine Bugbadeleiter. Die Boote sind sehr formstabil. Auch ohne Ballastkiel bekommt man sie nur schwer zum kentern. Die Umsetzung des Baus lässt sich mit drei Worten beschreiben: DDR meets Eigenbau.

Die Holzarbeiten sind liebevoll ausgeführt, das GFK ist massiv. Aber die letzten 20% sind entweder geschludert – man will ja auch irgendwann mal segeln – oder es fehlte an Material. Es gibt Stellen am Boot, deren Existenz ich mir nicht in meinen dunkelsten Träumen vorgestellt hätte.

Schwertkampf und zweite Hilfe
Das Boot sollte erst 2019 eingewässert werden. So hatte ich ausreichend Zeit, mich um das neue Schwert zu kümmern. Denn viel mehr lag augenscheinlich nicht an. Was ich in der Halle inspizieren konnte, sah nur nach ein wenig Lackarbeiten hier und dort aus. Den Einbau des neuen Schwerts plante ich für das folgende Frühjahr, wenn die Kiste sowieso am Kran hängen würde.
Auf meiner Suche nach einem Bootsbauer war ich zuerst weniger erfolgreich. Meine Frau Anja fand schließlich die Nummer des Sohns von Manfred Ernst heraus, der in Köpenick lebt und arbeitet. Ich rief ihn an, und Herr Ernst junior nahm sich Zeit. Er erzählte von Freunden, die mit diesen Booten bis nach London gesegelt waren. Und er erklärte mir viel über die Eigenschaften und Hintergründe der Boote, die sein Vater gezeichnet hat.
Er wusste, wie das Schwert angebracht war: Vorne im Schwertkasten befand sich ein langer Bolzen, der mehr oder weniger in den Kasten eingespannt wurde. An ihm befand sich das Auge, an dem das Schwert angebolzt wurde. Der Vorteil: Es gibt kein Loch im Schwerkasten. Herr Ernst gab mir den Tipp, das neue Schwert einfach durch den Kasten zu bolzen und diesen vorher etwas zu verstärken. „Es fahren hunderte so rum, und niemand säuft deshalb ab.“ Klang einleuchtend.
Rettung durch die Feuerwache
Es half nur nichts. Ich fand niemanden, der das Schwert bauen und einbauen wollte. Verzweifelt hatte ich auf Kleinanzeigen-Portalen gesucht und sogar ein Schwert gefunden. Ich wusste aber nicht, ob es passte. Die Geschichte zog sich bis in den Dezember letzten Jahres hin. Zwischendurch gab es Momente, in denen ich drauf und dran war, die olle Kiste einfach zu verschenken. Aber der Charme des Boots hielt mich davon ab.

Rettung nahte, als wir im Dezember beschlossen, Berlin zu verlassen und nach Brandenburg an der Havel zu ziehen. Kurze Zeit später schrieb mir jemand auf Facebook: „Dann melde Dich doch mal bei Bernd im Wassersportzentrum Alte Feuerwache. Wenn jemand Ahnung von Jollenkreuzern hat, dann er.“
Ich rief Bernd an. Zum Thema Schwert meinte er kurz: „Na, das ist doch kein Problem. Kauf das doch bei ebay. Wenn es zu groß ist, kommt ein Stück ab. Und wenn es zu klein ist, kommt ein Stück dran.“ Ich fuhr also nach Lübeck und kaufte für 100 Euro ein Schwert aus einem vergammelten Holzjolli von 1963. Es war ein DDR-Bau, Ernst-Riss.

Unsere neue Wohnung liegt nur 300 Meter vom Wassersportzentrum Alte Feuerwache entfernt. Bernd und ich entwarfen einen Plan: Wenn das Boot im April nach Brandenburg überführt wäre, würde er sich das Schiff ansehen. Nach einem Dreivierteljahr kam Lagena aus der Halle, und ich konnte das Boot von oben bis unten in Augenschein nehmen.
Aus Lagena wird Torte
Ein paar Wochen später war es soweit: Lagena kam nach Brandenburg. Kurz darauf fand die feierliche Umtaufe statt: Aus Lagena wird Torte.

Als Erstes räumte ich das Boot auf und entsorgte alles, was sich in Backskisten und Stauraum achtern angesammelt hatte. Dann ging ich ins Boot. Dabei fiel mir an Steuerbord die Füllung eines Holzschranks auf: Etwa 20 Rollen ehemals nasses Klopapier, offenbar zur Bekämpfung eines massiven Wassereinbruchs, lagen dort. Auch das Holz war bereits in Mitleidenschaft gezogen.
Als ich das Vorschiff leergeräumt hatte, kam das ganze Desaster zum Vorschein. Im Vorschiff hing verquollenes Sperrholz, darunter kam Styropor die Decke herunter. Die Fenster wurden irgendwann ausgetauscht. Der Erstbesitzer hatte die alten, für Jollenkreuzer typischen Fenster mit Alurahmen durch aufgeschraubte, selbstgesägte Plexiglasscheiben ersetzt. Die Dichtmasse war ein Mix aus Sika, Acrylkleber und Sanitär-Silikon.
Bei der Suche nach dem Leck fand ich an Deck eine weiche Stelle, genau vor der Verbindung vom Aufbau zum Deck. Bei leichtem Druck kamen kleine Blubberblasen hervor. Das Holz an der Aufbaukante war überlackiert. Wie in einem Tatort-Krimi setzte sich aus einzelnen Indizien nach und nach ein Bild der gesamten Misere zusammen.
Überall Eipilze!
Vorn am Fenster waren undichte Stellen immer nur geflickt worden. Darunter gammelte das Holz immer mehr. Die Verbindung zwischen Aufbau und GFK-Deck litt so sehr darunter, dass sie weich wurde und nachgab. Dadurch entstanden Risse. Weil das Wasser nicht ablaufen konnte, drang es nach innen und lief durch den Schrank ins Vorschiff. Die Klorollen sollten lediglich das Vorschiff schützen – echte Opferrollen. Metaphorisch gesprochen: Überall Eipilze!

Nachdem ich ausgerechnet habe, was etwa 10.000 Klorollen pro Jahr kosten, um trocken zu schlafen, entschied ich mich, das Boot umfassend zu restaurieren. Allerdings war es da schon Mitte April. Und das hätte bedeutet, dass wir in diesem Jahr nicht segeln können. Ich entschied mich deshalb für ein zweistufiges Refit.
Eines, mit dem Torte den Sommer gut übersteht. Und ein weiteres im kommenden Winter, bei dem ich das Boot so gut restauriere, dass es wieder wie neu aussieht. Erst segeln, dann schrauben – ich wollte ja nicht die Lust am Boot verlieren.

Warmer Schokokuchen mit flüssigem Kern
Zunächst habe ich die marode Stelle abgesucht und abgeklopft. Auf dem Deck befand sich eine Lage Glasfasermatten. Die war, offenbar mit Polyesterspachtel, auf das lackierte und ungeschliffene Deck geklebt worden, um das Deck stabiler zu machen. Nun: Polyester auf Lack aufzubringen, ohne vorher zu schleifen, hält nicht. Deshalb lag die Matte nur noch lose an Deck, und der Lack darüber hielt sie noch.
Noch mehr staunte ich, als ich das morsche Holz an der Kante des Aufbaus bearbeitet habe. Eine breiige Masse kam mir entgegen. So wie wenn man im Restaurant in einen warmen Schokokuchen mit flüssigem Kern sticht.
Ich weiß nicht, was das genau war. Etwas, was normalerweise mit Härter gemischt wird, aber in diesem Falle keinen Härter zu sehen bekommen hatte.

Es folgten Tage des Entfernens unbekannter, nicht gehärteter Materialien. Dann kaufte ich auf Empfehlung von Von der Linden das richtige Epoxid und verbrachte etliche Stunden mit Spachteln und Schleifen. Nun sind die Fenster erst einmal dicht. Der Schokokuchen ist fest und die Optik okay. Von weitem sieht es super aus, finde ich.

An Deck habe ich mit grauer Antirutschfarbe einen Streifen auf dem Laufdeck und die Fläche auf dem Vorschiff gestrichen. Das macht eine längere Linie und kaschiert das schlecht lackierte Deck.
Dann kam das Schwert dran. Bernd begrüßte mich morgens mit den Worten: „Ich bin ja ein großer Freund von Schablonen. Ich gebe Dir mal Pappe.“ Ein paar Stunden später war ich um die Gewissheit reicher, dass der Erstbesitzer ein sehr kleines Schwert konzipiert hatte. Vielleicht, um es unter Deck geräumiger zu haben. Denn der Tisch auf dem Schwertkasten hatte keinen üblichen Schlitz, durch den das aufgeholte Teil ragt. Torte hatte früher also eher ein Lateralplänchen gehabt.
Ich schnitt also eine Schablone, die maximal groß war. Der Schlitz im Tisch kam dann nachträglich. Mit der Flex musste ich von dem ebay-Schwert aus verzinktem Weißblech achtern in einer Rundung rund 5 bis 10 Zentimeter abnehmen. Am nächsten Tag bauten Bernd und seine Mitarbeiter das Schwert ein. Und siehe da: Es passte. Und weil Torte schon mal am Kran hing, ging es auch gleich ins Wasser. Um den Motor wollte ich mich später kümmern.
Ruggerini mit Aquariumschläuchen
Der 14-PS-Diesel ist ein weiteres Kapitel einfachen Handwerks. Mir ist ein Rätsel Wie, einfach zusammengetüdelte Kabel, mit Isolierband umwickelt, seit 1996 halten. Die Lichtmaschine ist zu groß. Man kann den Keilriemen weder spannen noch entspannen, weil ihr Gehäuse bereits am Motor anliegt. Aber sie ist sowieso kaputt.
Es geht ja auch ohne, zumal auch ein Solarpaneel an Bord ist, das die Lebensdauer der Batterie erheblich verlängert. Das Ladegerät ist eins aus dem Autohandel. Das reicht im Hafen, unterwegs brauche ich keins. Den Bordstrom habe ich stillgelegt und alle Lampen durch Batterie-LEDs ersetzt.

Das Erstaunlichste am Motor ist: Er lief und läuft immer noch. Ich traue ihm zwar nicht über den Weg, aber er funktioniert. Den suppenden Kraftstoffschlauch habe ich ersetzt. Nun muss sich ein Experte den Motor vornehmen. Mal sehen, wie er bei unserer Brandenburger Sommertour läuft, in der Anja, Hund Polly und ich die Seen erkunden wollen. Aber binnen kann man zur Not ja auch paddeln.
Sommerfertig
Inzwischen ist Torte bereit für den Sommer. Regenwasser dringt nicht mehr nach innen, bei Platzregen auch dank Gaffa-Tape. Der Mast steht, die Mastlegevorrichtung ist wundervoll. Anja hat sich um das Innenraumkonzept gekümmert und die Kajüte in einen gemütlichen Wohnraum verwandelt. Die erste Nacht an Bord war wunderschön. Torte versprüht seinen Charme mehr denn je. Von weitem sagen die Leute: Oh! Schönes Boot! Man darf sie nur nicht zu nah heranlassen. Jedenfalls nicht dieses Jahr.

11 Kommentare
Schön wieder etwas von Stephan Boden zu lesen ??
Interessantes Projekt… gern mehr davon.
Willkommen in B.randenburg!
Wusste gar nicht das Du hier schreibst, habe Deine Texte seit Ende des Digger-Blogs vermisst.
Aber Deine Bücher (bes. Einhandsegeln) in bester Erinnerung!
Viel Spaß mit „Torte“ 😉
Guckste hier: https://bit.ly/2KdusoF
! 🙂
Moin GB. Vielen Dank! Kannst Dir auch mal bei Amazon meine Autorenseite ( einfach in der Suche „Stephan Boden * eingeben) ansehen. Schreibe seit EINEM Jahr im Selbstverlag. Gruß
Ich liebe Deinen Schreibstil, bitte mehr davon !
Junge, Junge! Jetzt ist der Boden uch bei den Klassikern angekommen! Endlich! Glückwunsch und Mast und Schotbruch
Moin Stephan! Gratuliere zum Boot und schön das Du wieder auf dem Wasser unterwegs bist. Vielleicht kannst Du Dich an meinen Kurt P. erinnern. Du hast von ihm mal super Bilder gemacht. Handbreit H.Peter!
Moin! Na klar erinnere ich mich. Ganz viele Grüße von der Havel, auch an Kurt P.
Es gibt einfach im Segeljournalismus nicht viele Leute, die richtig gut Schreiben können. Stephan Boden ist definitiv einer der wenigen, die damit gesegnet sind.
Klasse Artikel, sehr kurzweilig und schön geschrieben, toll, das das hier bei Float kostenlos gelesen werden kann.
Ich wünsche viel Erfolg bei den Restaurierungsarbeiten.
Danke. Ich werde rot…