Wie kommen Menschen mit Handicap zum Segeln? Clemens Kraus, Koordinator des Projekts „Wir sind Wir“ im 1. Wassersportverein Lausitzer Seeland e. V., hat mal gesagt: „Eine Einschränkung beginnt im Kopf. Für alles andere gibt es Technik.“ Darüber grübelnd, warte ich an einem trüben Montagmittag bei norddeutschem Schmuddelwetter und wenig Wind im Hamburger Segel-Club auf eine mir zunächst noch unbekannte Person. Wir sollen gemeinsam eine Testfahrt mit einem neuen Boot, der Far East S\V 14, auf der Alster machen.
Organisiert hat das Treffen Anja Düvel, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Inklusion in der breit aufgestellten Segelabteilung des FC St. Pauli. „Wir sind eine bunte Mischung Nicht-Behinderter, Blinder, Rollstuhl fahrender Menschen, Menschen mit intellektuellen Einschränkungen und ohne Behinderungen“, hat sie mir in einem Vorgespräch umfangreich erläutert.
„Ich lasse mich nicht kleinkriegen!“
Und mir für den Test Nadine empfohlen: Die sei prädestiniert, sie kenne das Boot in- und auswendig. Das würde bestens klappen. Mit diesen Informationen im Hinterkopf betrachte ich – zunächst noch allein und einigermaßen skeptisch – das ungewöhnliche Boot mit seinem „Fahrradlenker“ vorm hinteren Sitz, das da gleich vorn am Clubhaus des HSC liegt. Und das soll klappen?
Um es vorweg zu nehmen: Es hat geklappt! So gut, wie ich es zunächst nicht für möglich gehalten habe, als die mir angekündigte Nadine Löschke fröhlich, flink und behände um die Ecke biegt – im Rollstuhl. Sie habe eine spastische Paraparese, eine Bewegungseinschränkung beider Beine, erklärt sie mir. Zur Not könne sie drei Schritte gehen. „Drei Schritte können Gold sein! Laufen tut mir allerdings auch ziemlich weh, deshalb tue ich es selten.“
Hinzu kommt eine angeborene Fehlbildung der Hand. „Ich lasse mich nicht kleinkriegen! Ich denke da sehr positiv.“ Und das ist kein Spruch bei ihr, sie strahlt es unentwegt aus! Nirgends ist zunächst Hilfe nötig, weder beim selbstständigen Hochfahren einer schrägen Ebene zur Außentür des Clubs, beim anschließenden Tür-Öffnen noch beim schwungvollen Stuhl-zur-Seite-Rücken am Tisch.

„Eine Einschränkung beginnt im Kopf“, bei der Erinnerung an diese Worte fühle ich mich ertappt. Was habe ich bloß erwartet? Zunächst „beschnuppern“ wir uns in einem äußerst informativen Vorgespräch. Und es kommt noch besser: Ohne sichtbare Anstrengung rutscht Nadine Löschke später zum Fertigmachen des Bootes vom Rollstuhl auf den Steg und klettert ins Boot.
Selbstständig vom Rollstuhl ins Boot
Und so geht es weiter: Meine Mitseglerin benötigt meine Hilfe nicht! Nur beim Holen der Segel, der Rückenpolster und Seitenkeile darf ich helfen, denn die liegen hoch auf einem Schrank im Clubhaus. Alles andere, Segelsetzen, Schoten einführen, fachgerechte Knoten binden, auch den Palstek, hätte ich allein auch nicht besser hingekriegt. Vielleicht etwas schneller – mehr nicht!
Zu zweit ist es ein Kinderspiel, die S\V 14 segelklar zu machen. Im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen sind die meisten Stege an der Alster nicht barrierefrei. Der HSC dagegen hat für die Rollstuhlfahrenden genau da, wo es am wenigsten Umbauten geben musste, ein paar Rampen gebaut. Außerdem sind die Stege über dem Bootskörper nicht so hoch. Das wäre für Rollstuhlfahrer dann nicht geeignet, um selbstständig ins Boot zu kommen.

Das Besondere: Bevor wir ablegen – ich habe mich auf dem Sitz inzwischen vorschriftsmäßig angeschnallt und das Rückenpolster und die seitlichen Sitzkeile zurechtgerückt –, wird mir die S\V 14 detailliert erklärt. „Das Schöne ist, dass der Sitz getrimmt werden kann. Er lässt sich per Knopfdruck am Lenker in einem Winkel zum Bootskörper bringen.“ Das bedeutet, bei Lage kann man sich im Gegensatz zur RS Venture Connect, einem anderen Inklusionsboot am HSC-Steg, gerade stellen. Der Sitz schwenkt um 30 Grad. Wenn die Venture Connect krängt, sitzt man in Fahrtrichtung nebeneinander gleichsam schräg, was sich bei stärkerer Krängung unangenehm anfühlen kann.
Platztausch unterwegs geht nicht
Bei der S\V 14 sitzt man dagegen hintereinander – der Steuermann immer hinten und der Vorschoter immer vorn. Man kann unterwegs auch schwer tauschen, es sei denn, beide können aufstehen, rutschen aus dem Sitz aufs Süll und rüber auf den vorderen bzw. hinteren Platz. Das ist relativ aufwendig und mindestens ohne vorhandene Sitzstabilität nicht möglich. Bei heftigerem Wind auch nicht.
Vor dem ersten Ablegen erfahre ich weitere wichtige Einzelheiten: „Für unsere Leute mit Sinnesbehinderung oder mit intellektuellen Einschränkungen ist es wichtig, dass alle Schoten, alle Sachen, die ich zum Bedienen des Boots brauche, immer genau an der gleichen Stelle sind. Also, dass Du die Curryklemmen aus dem Sitz erreichen kannst, wo Du nicht lange suchen musst.“
Das sei zum Segeln lernen auch sehr viel einfacher, als wenn die Schot mal da oder dort liegt. Meine Mitseglerin fügt hinzu: „Du hast Deine Schot immer an der gleichen Stelle. Wenn ich also das Groß fieren will, weiß ich, dass die Curryklemme zwischen meinen Beinen ist.“

Die Person hinten ist also strikt fürs Steuern, die Großschot und den Trimm zuständig. Vorne wird die Fock und bei Bedarf der Gennaker sowohl gesetzt als auch gefahren. Wobei das bei dem HSC-Boot noch nicht so umgebaut ist, dass es ohne Anstrengung möglich ist. Die S\V 14 ist von der chinesischen Werft Shanghai Far East Boats Co. Ltd. so ausgeliefert worden.
Das Gennakerfall kann man an der Stelle seitlich des Sitzes nur schwer bedienen. Die Schoten müssen es quer mit Richtung nach vorn ziehen. Wegen starken Reibungsverlusts ist das nur mit großem Aufwand möglich. Der Importeur Bootspunkt arbeitet aber gerade an einer Verbesserung.
Die S\V 14 kann nicht kentern
Meine Begleiterin hält die S\V 14 im Vergleich zur RS Venture Connect für das sportlichere Boot. Die Venture Connect ist größer und stabiler, braucht dadurch mehr Wind und hat einen großen Wendekreis. Die S\V14 sei da viel „beweglicher“, verzeiht aber auch weniger Fehler. Und sie segelt eine gute Höhe. Unser Test bei der nur leichten Brise hat es bewiesen.
Ich erfahre weiter, dass selbst bei äußerster Schräglage kentern unmöglich sei. Vielleicht der wichtigste Sicherheitsaspekt eines Bootes für Inklusiv-Segelnde. Nur, die Chinesen hätten sich wohl die Frage gestellt, wie viel zwei erwachsene Menschen wiegen – und sich bei deren Gewicht auf zusammen 150 Kilogramm entschieden. „Das ist für zwei erwachsene Mitteleuropäer nicht immer ganz einfach“, sagt meine Begleiterin lachend. Für die Stabilitätsberechnungen ist Alex Simonis von 85 kg je Segler ausgegangen, da ist also noch Reserve.

„Aber“, fährt sie fort, „wenn man drin sitzt und das Gewichtslimit nicht wesentlich überschreitet, und das Boot legt sich wirklich mal aufs Wasser, dann ist dieses Boot selbstaufrichtend.“ Und zwar nicht nur auf 90, sondern sogar bis 130 Grad. Das heißt: Es kentert nicht durch, selbst wenn das Segel unter Wasser gedrückt ist. Ich bin beruhigt! Das gibt vor allem denjenigen, die nicht so schnell aussteigen oder rauskrabbeln können, einfach mehr Sicherheit.
Die 110 Kilogramm schwere Bleibombe am Kiel ist zwar „nur“ ausgerichtet auf 150 Kilogramm Crewgewicht. Auf das Gewichtslimit muss man aber nur bei Crews achten, bei denen zwei bewegungseingeschränkte Menschen das Boot allein segeln. „Wir hier auf der Alster machen es so, dass oft ein bewegungseingeschränkter Mensch mit einem Normalo segelt.“
Auch bei Lage aufrecht sitzen
Dann darf die behinderte Person nicht mehr wiegen als 150 Kilogramm – sollte zu schaffen sein… „Die mitsegelnde Person kann dann ja im Notfall aus dem Sitz heraus und das Boot mit aufrichten.“ Diese muss sich dann nur auf der richtigen Seite auf den Rumpf setzen und dem Boot „helfen“ sich aufzurichten. Das Vertrauen des behinderten Menschen und die richtige Einschätzung der nicht behinderten Begleitung vor allem bei viel Wind immer vorausgesetzt!
Der 110-Kilo-Kielballast stellt einen Ballastanteil von über 60 Prozent dar. Dadurch besteht die Möglichkeit, das Boot in einem optimalen Krängungswinkel von weniger als 20 Grad zu halten. Es ist wichtig, die Krängung so weit wie möglich zu begrenzen, da der Sitz für die Crew in beide Richtungen bis zu 20 Grad geneigt werden kann. So können sie unter den meisten Segelbedingungen aufrecht sitzen.

Das erhöht nicht nur den Segelkomfort der Crew, sondern dient auch zusätzlich als vertrauensbildende Maßnahme unterwegs. Für mich als „Normalo“, wie meine Begleiterin Nadine uns Nicht-Behinderte gern tituliert, eine durchaus ungewöhnliche Erfahrung – Lage schieben und trotzdem aufrecht sitzen oder per Hydraulik den Lee/Luv-Trimm herstellen.
Das Boot hat einen einzigen Hebepunkt, um es schnell und ohne großen Aufwand ins oder aus dem Wasser zu hieven. Das Gesamtgewicht der S\V14 inklusive Ballast ist auf 300 kg ausgelegt. Damit kann sie auf einem einachsigen Anhänger von einem normalen Familienauto gezogen werden.
Niemand hat an dem Boot verdient
Die S\V14 ist ein junger Entwurf: Im Jahr 2015 beauftragte ein thailändischer Segelverein den holländischen Yachtdesigner Alex Simonis, ein sicheres, modernes, sportliches und vor allem erschwingliches Boot für die Para-Segelgemeinschaft zu entwerfen. Nebenbei sollte es sich als Regattaklasse schnell etablieren, um möglichst vielen Menschen, ob nun mit oder ohne Behinderung, die Freude an diesem tollen gemeinsamen Sport-Erlebnis zu ermöglichen.
„Es handelt sich dabei um ein Non-Profit-Projekt von Alex Simonis, Far East und uns. Alle Beteiligten verdienen damit kein Geld. Alex bekommt kein Designer-Honorar, die Werft liefert die ersten 1000 Boote zu Selbstkosten, wir verwenden eventuelle Gewinne für Werbung, Sponsoring, kostenlosen Vorführbooten usw.“, sagt Dirk Weißenborn vom Importeur Bootspunkt. Führt zu einem attraktiven Preis: Das komplette Boot mit Segeln kostet derzeit 9.669 Euro zuzüglich Transport.

Die ersten tausend S\V 14 seien sogar zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt worden, der noch unter den Rohstoffkosten für die Selbstbau-Holzversion lag. Im Sommer 2018 begann dann die Serienproduktion der S\V 14 auf der renommierten Werft in Shanghai. Es gibt sechs verschiedene Versionen, maßgeschneidert für die unterschiedlichsten Anforderungen. Selbst Menschen mit schwereren Behinderungen können dank der elektrisch betriebenen Kippsitze in der Klasse mitfahren.
Es sind verschiedene Segelkombinationen möglich, um sich an das Niveau von Kompetenz, Crew und Leistung anzupassen. Wie alle Modelle von Far East Boats wird auch die S\V 14 mit einem per Vakuuminfusion gefertigten Sandwichrumpf produziert. Ruder und Hubkielflosse sind aus Karbon gefertigt, der gusseiserne T-Kiel ist mit Glasfaser überzogen. Das Designteam entwickelte außerdem einen Bausatz, mit dem auch handwerklich begabte Laien ohne teure Werkzeuge problemlos dieses Do-It-Yourself-Boot herstellen können.
Technische Daten S\V 14
Rumpflänge (ohne Ruder und Bugspriet): 4,39 m
Länge: 5,35 m
Breite: 1,59 m
Tiefgang: 1,20 m
Gewicht: 345 kg
Großsegel: 6,7 qm
Fock: 2,1 qm
Gennaker: 9,5 qm
CE-Katetorie: C (küstennahe Gewässer)
Für den Selbstbau optimiert
Allerdings sind bisher nur wenige Boote so gebaut worden. Fazit: Die S\V 14 ist schon ein sehr besonderes Boot. Wurde es zuallererst für Menschen mit Behinderung entwickelt, um diesen überhaupt oder auch je nach erlittenem Schicksal wieder das Segeln zu ermöglichen, bietet es darüber hinaus aber auch Menschen, die altersbedingt nicht mehr so trittsicher und gleichgewichtsstabil sind, die Möglichkeit, noch zu segeln.

Auch ein günstiges Boot kann nur ablegen, wenn genügend Helfer am Start sind: Um das Inklusionssegeln und weitere Projekte mit der S\V14 weiter anzukurbeln, wird jede Hilfe dankbar angenommen. Erbeten werden Spendengelder oder gleich Sponsoren, die sich engagieren.
Zusätzlich werden neue Mitglieder in der Klassenvereinigung und in den Vereinen gesucht – und ehrenamtliche Helfer, die zum Beispiel am Wochenende Regatta-Service und ähnliches machen. Interessenten können sich diesbezüglich mit dem Importeur Bootspunkt in Verbindung setzen oder auch mit Clemens Kraus vom 1. WSVLS e.V. Weißenborn: „Bei der Bundesliga-Regatta habe ich einen ehemaligen Mitarbeiter aktiviert, aber das ist halt alles mit viel Aufwand verbunden und sehr teuer.“