„Zurück in Quito, habe ich dieses Bild vor Augen: Tapiatpia, der elektrische Fisch, gleitet den Pastaza-Fluss entlang. Mario ist am Steuer, Hilario auf dem Bug. Die Sonne scheint, der Fluss fließt. Etwas Neues hat begonnen“, erinnert sich Oliver Utne. Der in Ecuadors Hauptstadt lebende US-Amerikaner war gerade von seiner ersten Langfahrt mit dem Boot zurückgekehrt, als ich ihn zum Interview per Skype erreichte.

„Tapiatpia“, der elektrische Fisch, wie die Achuar das Boot in ihrer Sprache nennen, startete am 28. März zur ersten ausführlichen Erprobungstour: 25 Tage lang, auf vier Flüssen, insgesamt 1.800 Kilometer. Neun Männer sind unterwegs, um die Seetüchtigkeit des ersten solarbetriebenen Elektroboots im Amazonasgebiet zu testen: Oliver Utne, der Ingenieur Peter May, zwei Mitglieder des Achuar-Volks, ein Kitchwa-Indianer als professioneller Skipper, dazu vier Experten für Sicherheit und Logistik.
Seit das Boot in den normalen Betrieb gegangen ist, transportiert die „Tapiatpia“ 18 Personen und über zwei Tonnen Waren über den Amazonas. Neun Gemeinden der Archuar, die an zwei Flüssen auf einer Strecke von 67 Kilometern liegen, werden so angefahren. Diese Flussabschnitte sind am besten schiffbar, hier werden die Bedürfnisse der Bevölkerung am besten gedeckt: Die weiterführende Schule der Region liegt in der Mitte der Strecke, auch zwei Kliniken und zwei Hotels gibt es hier.

Oliver Utne ist der Gründer und Koordinator von Kara Solar, einem Transportprojekt im Amazonasgebiet von Ecuador. Der 33-Jährige aus Minneapolis im nördlichen US-Bundesstaat Minnesota kam als Volunteer, für einen ehrenamtlichen Freiwilligendienst, nach Amazonien. Er war Flugkoordinator für die einzige Lodge im Achuar-Gebiet. Dieser Teil Südamerikas gilt als die artenreichste Region der Erde, der Regenwald hier ist fast vollkommen unberührt. Wie der Großteil des Amazonas-Beckens ist das Achuar-Gebiet von schiffbaren und langsam fließenden Flüssen durchzogen. Straßen gibt es nicht.
Nach seinem Praktikum wurde Utne eingeladen, für einige Monate in einem Achuar-Dorf zu leben. Sensibilisiert durch seine Arbeit in der Lodge suchte er, gemeinsam mit seinen Gastgebern, nach einer Lösung für das Transportproblem. Bald kamen sie auf Elektroboote, und die Idee für Kara Solar war geboren: „Kara“ bedeutet in der Sprache der Achuar „Traum, der sich erfüllt“.

Auf ihrer ersten Reise fuhren die neun Männer täglich bis zu 140 Kilometer. Abends kampierten sie, wo sie eben landeten – bevorzugt in Dörfern, damit die Crew den Flussanrainern das Projekt erklären konnten. Häufig stand die ganze Gemeinde um das Solarboots herum. Die Besatzung erklärte, was Solarenergie ist und wie ein Elektroboot funktioniert.
Da es in diesem Teil Amazoniens weder Straßen noch sonstige Verkehrsinfrastruktur gibt, machen die Bewohner alle Wege zu Fuß oder mit dem Kanu. Das Benzin für Außenbordmotoren kommt nicht etwa per Schiff, sondern nur auf dem Luftweg. Wegen der schwierigen Lieferbedingungen kostet es vier- bis fünfmal mehr als im Rest des Landes. Und es verschmutzt die Flüsse, von und mit denen die Achuar leben und sich ernähren.

Die Tapiatpia ist ausgerüstet mit zwei Elektromotoren des Typs Torqeedo Cruise 4.0, testweise kommt auch ein Torqeedo Cruise 10.0 zum Einsatz. 32 Solarmodule erzeugen unterwegs bei üblich starker Sonneneinstrahlung rund 7 Kilowatt Strom pro Stunde und produzieren damit ausreichend Leistung, um die Motoren zu betreiben. Die effizienteste Marschgeschwindigkeit des elektrischen Fischs liegt bei 4 Kilowatt pro Stunde.
Die Reisebeschreibungen der Kara-Solar-Aktivisten klingen mitunter wie Passagen aus dem Roman „Wassermusik“ von T. C. Boyle. Die Mannschaft gerät in Stürme und kämpft mit Hochwasser und Treibholz. Man durchquert von Piraten kontrolliertes Gebiet und hat Glück, nicht überfallen zu werden. Ein Propeller geht kaputt und wird ersetzt, die Antriebswelle verbiegt und kann repariert werden.
„Das Beste an der Reise war der Kontakt mit den Leuten“, sagt Oliver Utne in der Rückschau. Nur einmal verschreckten sie die Einheimischen, als sie – verwildert und bärtig von der tagelangen Reise – mit dem Boot an Land gingen, das mit seinen Solarpaneelen eher wie ein Raumschiff wirkt. Die Bewohner flohen vor ihnen in den Wald.
In der Region um den Pastaza-Fluss leben in 78 Gemeinden etwa 8.000 Achuar. Anderenorts kamen mit den Straßen auch die Ölförderer – und damit das schnelle, elende Ende des ursprünglichen Lebens. Das Volk kämpft seit Jahren mutig für seine kulturelle Unabhängigkeit, für das eigene nachhaltige Wirtschaften und setzt dabei auf Ökotourismus.

Die Geschwindigkeit des Community-Boots auf dem Fluss hängt stark von der jeweiligen Strömung ab. Die meiste Zeit fährt das Tapiatpia-Team mit 14 km/h flussabwärts. Flussaufwärts geht es mit nur etwa 7 km/h. Das sind, mit dem Beiboot im Schlepptau, im Schnitt 10 km/h. Ohne das Hilfsboot kommt das Solarschiff auf 18 km/h (talwärts) und 10 km/h den Fluss hinauf. Dann liegt der Mittelwert bei 14 km/h.
Bei starker Strömung hat die Crew manchmal das Gefühl, sie steht im Wasser – Momente, an denen auf der ersten Tour kritische Stimmen aufkommen. Aber genau dafür war die Tour da: Um zu sehen, wo die Schwierigkeiten liegen und herasuzufinden, welche Motorisierung notwendig ist, um mit den Bedingungen vor Ort gut zurechtzukommen. Der elektrische Fisch erreichte auf der Erprobungstour seinen Zielort so gut wie unbeschadet.
Der Traum vom elektrischen Fisch ist wahr
Oliver Utne hat das Projekt nicht alleine entwickelt. Alle Entscheidungen wurden und werden gemeinsam mit den Achuar und ihrer Organisation getroffen. Peter May, ein Elektroingenieur aus München, der bereits seit 30 Jahren an Solarprojekten im Amazonas-Gebiet arbeitet, unterstützte das Kara-Solar-Projekt von Beginn an. Gemeinsam wandten sie sich an Experten, Universitäten, Wissenschaftler und Bootskonstrukteure. Eine enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen auf nationaler und internationaler Ebene, wie ALDEA, entstand. Bald wurde klar, dass das Projekt sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich tragfähig ist.

Um herauszufinden, wie Kara Solar geografisch funktioniert, wurde eine Schiffbarkeitsstudie für die Flüsse in der Achuar-Region und eine Wasserkarte erstellt. In einer sozio-ökonomischen Grundlagenstudie wurde untersucht, wo es die größte Transportnachfrage gibt. Nach umfangreichen Studien am MIT, einer der bekanntesten Universitäten der USA, stellte sich heraus, dass das beste Rumpfdesign für das geplante Boot das traditionelle Amazonas-Dugout-Kanu ist.
Es zeigte sich auch, dass mit Ultraleicht-Solarmodulen genügend Energie erzeugt werden kann, um auf Ladestationen am Ufer verzichten zu können. Die Dachkonstruktion mit den Solarmodulen war der komplexeste Teil, weil das Dach so leicht wie möglich und gleichzeitig robust konstruiert werden musste. Im August 2016 war der Prototyp fertig, der – zum elektrischen Fisch gewandelt – nach der Erprobungsreise bald in den regulären Einsatz gehen soll.
Und weiter geht’s
Kara Solar wurde mit Hilfe der Ältesten der Gemeinden gegründet, ist anerkannt ist und wirtschaftet inzwischen eigenständig. Das Projekt wurde in eine Stiftung eingebettet und entwickelt sich weiter.
Mehr Informationen findet ihr unter Kara Solar.