Es ist kurz nach 18.30 Uhr. Am meteorologisch letzten Mittwoch dieses Sommers beginnt die Mittwochsregatta des Hamburger Segel-Clubs. Eine „Seezunge“ geht mit Bahnverkürzung – und wegen der Windrichtung linksherum – mit Yardstickwert von 135 und entsprechender Zeitvergütung als erstes Boot auf den Känguruhkurs. Es folgen nach und nach Jollen und Dickschiffe der 21. Mittwochsregatta auf der Hamburger Alster.
Auch die Gesamtsiegerin dieser Saison ist dabei: die Vollholz-H-Jolle Königin, die sich rund zehn Minuten später auf die Verfolgungsjagd macht. Jetzt gilt es, im Laufe des Rennens die früher gestarteten Teilnehmer „einzusammeln“ und sich möglichst nicht überholen zu lassen.

Ein Meister an der Pinne
An der Pinne dieser H-Jolle sitzt ein nicht ganz unbekannter Meister seines Fachs. Der 52-jährige Claas Lehmann vom benachbarten Norddeutschen Regatta-Verein wurde vor fünf Jahren Weltmeister in der 505er-Klasse. Mit seinem Vorschoter Erich Walther (56), dem Besitzer der Jolle, hat er viele Rennen im Boot gewonnen, das altersmäßig zu ihnen passt: Die Königin mit der Segelnummer H 530 ist 54 Jahre alt.
Bei der Abschlussregatta reicht es nicht mehr zum Sieg für die beiden. Mit großem Punktvorsprung und fünfmal Platz 1 – es kommen von 22 möglichen Starts zwölf Wettfahrten in die Jahreswertung – holt die Crew Lehmann/Walther souverän den diesjährigen Gesamtsieg beim HSC. Ob die besondere Geschichte des Boots seinen Anteil am Erfolg hat?
Die H-Jolle ist tot – es lebe die Königin
Die Entstehung der Königin ist gleichzeitig ein Stück Klassengeschichte. „Die H-Jolle ist tot! Es lebe die H-Jolle!“ So betitelte das Segelsportmagazin Yacht 1965 in seiner August-Ausgabe einen zweiseitigen Bericht über die Segelklasse, bei der die Neubautätigkeit zuletzt stark zurückgegangen war.
Die Gründe waren vielfältig: In nationalen Klassen durfte seit zwei Jahren keine Deutsche Meisterschaft mehr ausgesegelt werde. Als Konstruktionsklasse hatte die H-Jolle keine innovativen Ideen mehr hervorgebracht: Das Boot wurde noch immer in Vollholz gebaut und war entsprechend teuer. Der formverleimte internationale Flying Dutchman hatte dem Bootstyp längst den Rang abgelaufen. Und der Sperrholz-Zugvogel griff alle anderen Segler ab, denen die H-Jolle zu sportlich war.


So entschloss sich der Autor des Yacht-Artikels, der bis heute segelnde 88-jährige Essener Architekt Ric Stiens, sich in der Bootswerft Willi Kother in Krefeld zur Saison 1964 einen neuen Grunewald-Riss bauen zu lassen.
Der Konstrukteur lässt sich bitten
Der Autor setzte sich während seiner Recherche zur Geschichte dieser Jolle mit dem rüstigen Erst-Eigner in Verbindung. „Der Zufall wollte es, dass damals der Berliner Konstrukteur Kurt Grunewald in Essen wohnte“, erinnert sich Ric Stiens, „und ich ihm somit meine Idee von einer modernen H-Jolle schonend beibringen konnte. Der wollte zunächst nicht anbeißen und der Werft Fricke am Dümmer keine Konkurrenz machen.“ Die meisten H-Jollen der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre hat nämlich Fricke – heute Fricke & Dannhus – nach dem traditionellen Grunewald-Riss gebaut.
Im Gespräch erinnert sich Stiens, dass Grunewald dann doch einen schnellen Rumpf mit seinen Ausbau-Ideen ohne jeden Firlefanz konstruierte. Stiens und sein Segelfreund Gerd Rose waren beide mit ihren Jollen auf dem Essener Baldeneysee beheimatet. Als unerbittliche Verfechter der Aufrechterhaltung der H-Jolle als Konstruktionsklasse versuchten sie, der Klasse frischen Wind einzuhauchen.


Der Turbo unter den H-Jollen
Rose tat dies mit der H 521 namens „Inga“. Stiens ging mit der 1,87 m breiten H 530 an den Start, der er – nomen est omen – den Namen „Königin“ gab. Dies Boot hatte, im Vergleich zu den bisher gebauten H-Jollen, für damalige Verhältnisse einige Neuerungen zu bieten. Da waren zunächst das geringste zulässige Freibord und ein leichteres Sperrholzdeck als üblich – ohne Wellenbrecher und Süllrand. Rechts und links am Mast gab es Öffnungen im Deck für den Spinnaker, der „außenrum“ gefahren wird, dazu Elvström-Lenzer und Lenzklappen am Spiegel.
Hinzu kamen ein dünner und leichter Holzmast ohne feste Vorstagspiere. Dank eines FD-Beschlags war die Fock mit endlos geführter Bedienungsleine im Boot rollbar. Das Niro-Schwert war, ebenfalls aus Gewichtsgründen, am Hals mehrfach durchbohrt. Der Spaß kostete Stiens damals regattaklar – also mit Persenning sowie Groß, Spi und drei Vorsegeln – rund 8.500 DM.

Neues Revier für die Königin
Erich Walther, der heutige Eigner der Königin, hat die Jolle 2009 über eine Internet-Anzeige gekauft. Er erinnert sich: „Das Boot hat mich vom Äußeren sofort fasziniert, aber es war ein Restaurationsfall. Der Vorbesitzer hatte es als Wanderjolle mit einem Zugvogelrigg auf dem IJsselmeer gesegelt.“ So hat Walther, der wie sein Steuermann Arzt von Beruf ist, das Boot mehr als zwei Jahre in Eigenregie mit Hilfe eines Bootsbauers instand gesetzt. Beibehalten hat er natürlich das für Alt-H-Jollen typische und schön anzusehende durchgelattete Großsegel. „Auf dem Wasser sehen sie aus wie Schwäne“, zitiert Ric Stiens seinen damaligen Segelfreund Gerd Rose.
Die Königin sorgte seinerzeit für einige Aufregung in der Klasse und war nicht unumstritten. Das Boot, das bis heute Regatten gewinnen kann, läutete eine bis 1970 dauernde Phase der Erneuerung in der Segelklasse ein. Erst dann wurden die bis dahin in Vollholz gebauten H-Jollen, inzwischen 1,90 m und mit flexibleren Alumasten bestückt, von der Kother-Version aus GFK abgelöst. Das aber ist eine andere Geschichte.