Wie Sardinen liegt die Crew umher
Nach Erinnerungen von Mannschaftsmitgliedern besetzen Castro und ein halbes Dutzend Vertraute das Cockpit. Darunter sein Bruder Raul, Ernesto „Che“ Guevara und andere, die später Rang und Namen haben werden. Der Rest der Crew lagert wie Sardinen in den restlichen Räumen.

Dann kommt auch noch schlechtes Wetter hinzu: Ein Sturm von Norden ist angekündigt, mexikanische Häfen sind bereits geschlossen. Nur dank Bestechung kann die „Granma“ Tuxpan verlassen. Kaum aus der Flussmündung, erwartet die jungen Männer die Hölle: 6 bis 7 Windstärken, Böen bis 30 Knoten bringen die See zum Kochen und die „Granma“ zum Tanzen. Unter Deck ist bald jeder seekrank.

„Nach zwei Tagen hatte ich das Gefühl, mein Innerstes würde sich nach außen kehren“, erinnert sich der Veteran Esteban Perez 2019 in einem Interview. Bis auf eine Handvoll Männer, darunter der Kapitän, kotzen alle. Da es auf dem Schiff so eng ist, kommen viele nicht mehr rechtzeitig an Deck oder zur Toilette. Die Zustände müssen unerträglich sein.
Bald dringt Wasser ins Schiff ein
Weil sich der Steuerbord-Diesel wieder meldet, muss die Fahrt herabgesetzt werden von neun auf sechs Knoten. Damit fällt die „Granma“ hinter den Zeitplan zurück. Sie wird außerdem noch mehr zum Spiel der Wellen. Und sie nimmt Wasser. Das Boot liegt aufgrund der über drei Tonnen Zuladung rund 30 Zentimeter tiefer als normal, daher dringt die See durch Spalten im Holzrumpf. Die Pumpen fallen aus.
Schließlich fällt auch noch mitten in der Nach ein Mann über Bord. Es ist Roberto Roque Núñez, der den Ausguck macht und vielleicht einen Moment keine Hand fürs Schiff hat. Eine Welle wirft die Yacht zur Seite, er verliert den Halt. Trotz der aussichtslosen Situation befiehlt Castro, ihn zu suchen. Angeblich dauert es eine Stunde, bis die „Granma“ den im Wasser Treibenden findet und an Bord holt.

Das Himmelfahrtskommando ist offenbar vom Himmel gesegnet: Nach zwei Tagen lässt der Wind nach, die Pumpen bringt Jesus Reyes wieder in Gang. Im Hauptberuf ist er Castros Leibwächter, doch auf der „Granma“ entpuppt er sich als begabter Mechaniker. Der Kapitän Norberto Abreu steuert die Guerilla-Yacht sicher zum Ziel. Dass ihn dabei kubanische Streitkräfte übersehen, grenzt an ein Wunder.
Kaum an Land, wird geschossen
Denn die sind früh zur Stelle. Als die „Granma“ mit zwei Tagen Verspätung schließlich am Südwestzipfel Kubas eintrifft, graut der Morgen. Dann erweist sich die Seekarte als falsch, Castros Crew irrt umher, findet den geplanten Landeplatz nicht. Schließlich gerät die Yacht auf Grund. Ende des Törns!
Batistas Häscher wissen dank erfolgreicher Spionage längst Bescheid. Kaum sind die nassen, erschöpften Handlungsreisenden an Land, bricht erneut die Hölle los. Ihre Mission ist verraten worden, Flugzeuge werfen Bomben und Regierungssoldaten schießen auf sie.

Nur einem Fünftel der Crew gelingt die Flucht in die Berge, der Rest wird erschossen oder gerät in Gefangenschaft. Die „Granma“ bleibt erneut gestrandet zurück. Doch was nach einem weiteren Fehlschlag aussieht, entpuppt sich als Anfang vom Ende der Batista-Herrschaft. Immer mehr Bauern laufen zu den Aufständischen über, auch die Stadtbevölkerung sympathisiert mit „Fidel, der in den Bergen lebt“, wie ein zeitgenössisches Volkslied ihn besingt. Batistas Schicksal ist besiegelt, als Ende 1958 die USA ein Waffenembargo über Kuba verhängen.

Im Januar flüchtet der Despot mit seinen engsten Vertrauten von der Insel, im Fluggepäck angeblich 300 Millionen Dollar. Und bis zu 20.000 Ermordete auf seinem Gewissen. Die Revolutionäre werden in Havanna begeistert begrüßt. Und nachdem ihre Regierung stabilisiert ist, ernennt Castro seinen Kapitän Abreu zum Paten für „Granma“. Sie wird restauriert und erhält schließlich einen Ehrenplatz an Land. In einem klimatisierten Glaspalast inmitten der Hauptstadt ist die einstige Millionärsyacht bis heute ausgestellt wie eine Monstranz.
Die Granma wird zum Heiligtum
Doch damit nicht genug: Die Region, in der Castros Truppe damals an Land stolperte, zuvor ein Teil der Provinz Oriente, wird eigenständige Provinz und heißt jetzt „Granma“. Auch die Parteizeitung der sozialistischen Einheitspartei Kubas trägt den Namen der Yacht. Eine Replik des Boots wird zu Jahrestagen feierlich durch die Straßen der Stadt gefahren. Und Modelle in verschiedenen Formaten überreichen Funktionäre der Nomenklatur gern bei Staatsbesuchen. Kein Zweifel, Castro und seine Getreuen wissen Legenden zu stricken.
Und in der Tat ist die Geschichte so gut, dass man sie besser nicht hätte erfinden können. Die Chancen standen 100:1, dass die 82 „Expedicionarios“, wie die offizielle kubanische Geschichtsschreibung die jungen Kämpfer nennt, nicht durchkommen. Sie kamen durch. Eine moderne Odyssee.

Und ein Wimpernschlag der Geschichte, wie es ihn selten gibt. Wäre das Wetter stürmischer gewesen oder die Küstenwache wachsamer, hätte Fidel Castro mit seinen Getreuen nicht die Insel erreichen und einen zweijährigen Dschungelkrieg entfesseln können, der am Ende das morsche Regime zu Fall brachte, der den USA den „roten Hund im Hinterhof“ bescherte, die Kuba-Krise und hundert weitere Ereignisse von internationaler Tragweite. Ein kleines Boot beeinflusst bis heute die politische Landschaft Amerikas. Kolumbus‘ Flaggschiff „Santa Maria“ ist nur fünf Meterlänger.