Im Legoland in Billund kann man seit Jahrzehnten die Sensation erleben, wie von Geisterhand in einem Boot über Kanäle gesteuert zu werden. In näherer Zukunft könnte das auch in Amsterdam möglich werden. Der Unterschied: Im Legoland sind die Kanäle kaum breiter als die Boote, es muss nur geradeaus gehen.
Auf den Schifffahrtswegen in der holländischen Hauptstadt müssen die selbstfahrenden Boote vertracktere Situationen meistern. Nicht nur müssen sie anderem Schiffsverkehr ausweichen, sie müssen auch ständig die sich verändernden Bedingungen von Wind, Strömung und Wellengang abgleichen. Dazu ist selbstlernende Computertechnik, KI genannt, nötig.

Ein Team von Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Amsterdam Institute for Advanced Metropolitan Solutions (AMS Institute) arbeitet seit 2016 an der Roboat-Technologie. Das fertige Modell wurde am 28. Oktober 2021 vorgestellt. Die symmetrischen, vier Meter langen Boote können bis zu sechs Passagiere an Bord nehmen – oder Müll transportieren oder sich zu Brücken aneinanderketten. Gleichzeitig sammeln sie auf ihren Strecken wissenschaftliche Daten über die Wasserqualität.


KI als Käpt’n
Die Technik nutzt 360-Grad-Kameras und das LiDAR-System (Light Detection and Radar), das per Laserstrahl hunderttausende Abstandsmessungen pro Sekunde durchführt und so ein 3D-Bild der Umgebung zusammensetzt. Die Lernphase für die Künstliche Intelligenz wurde in einem Forschungsbecken der Marine durchgeführt. Angetrieben werden die Boote von E-Motoren der Marke Torqeedo, die Roboat als offizieller Sponsor unterstützt.
Roboat gehört zu einer Phalanx aus weltweiten Projekten wie dem Mayflower Autonomous Ship oder der segelnden Drohne vom Geomar-Institut, die künstliche Intelligenz und autonomes Fahren für die Wasserwege erforschen. Wie die weitaus bekannteren Projekte zu Lande kämpfen sie nicht nur mit technischen, sondern auch mit rechtlichen Fragen. Kurz gefasst: Wer haftet? So kommt auch Roboat nicht um einen Onshore Operator herum, der von Lande aus für bis zu 50 Boote gleichzeitig die finale Verantwortung übernehmen – und im Notfall eingreifen – kann.

Automatisch effizienter
Diese Level-4-Autonomie schafft ein Höchstmaß an Rationalisierung zu Wasser. Je kleiner ein Schiff, je weniger Personen oder Waren es transportieren kann, desto mehr schlägt die einzelne Arbeitskraft an Bord finanziell zu Buche. Roboats sind klein, aber es fällt auch keine einzige menschliche Arbeitskraft an Bord an. Fans der Film-Dystopien „Robocop“ oder „Terminator“ mögen das bedenklich finden. Aber unter den herrschenden Wirtschaftsbedingungen wird so die Nutzung der innerstädtischen Wasserwege – und die Entlastung der Straßen – ökonomisch überhaupt erst möglich, wie Ynse Deinema, Projekt-Koordinator von Roboat beim AMS Institute, gegenüber float ausführt.
Ynse Deinema listet auf, welche Vorzüge der autonome Schiffseinsatz rund um die Uhr für die Stadt bedeuten kann: keine Laster mehr in den Straßen, die Lärm, Schmutz und Erschütterungen mit sich bringen. Der beschränkte Platz wird nicht von Lieferfahrzeugen verstopft. Der Warenverkehr kann über die Wasserwege abgewickelt werden, ohne einen CO2-Abdruck zu hinterlassen und ohne die Luft zu verschmutzen.
Die freundliche Flotte
Personen-, Waren- und Abfalltransport werden on Demand mit Roboats abgewickelt, sieht Ynse Deinema voraus. Eine „friendly fleet of Roboats“ wird die Lebensqualität in der Grachtenstadt enorm erhöhen. In Japan streicheln Roboter pflegebedüftige Rentner, in Amsterdam verschiffen sie eilige Passanten von einem Ufer zum anderen.
Im jetzigen Stadium heißt Autonomisierung der Technik für den Menschen, das Handeln abzugeben, aber die Verantwortung zu behalten. Soldaten kontrollieren Drohnen und Kapitäne Roboats am fernen Bildschirm. Der Mensch igelt sich weitab vom Geschehen ein. Und die Moral von der Geschicht’? Der Traumberuf Hafendampferkapitän wird in Europa wohl aussterben wie der des Matrosen zur See. Wer kauft dann noch Elbsegler-Mützen?