Am 14. Juli steht die Historikerin Sandra Walser auf dem Punkt 90°00,000’N. Nichts bietet ihren Augen Halt, vor ihr erstreckt sich eine riesige, endlose Fläche aus Weiß. Zusammen mit einer Touristengruppe auf einem nuklear betriebenen Eisbrecher mit 72.000 PS besucht sie als Guide den Nordpol. 14 Tage dauert heute eine solche Reise. Weil die Endlichkeit des Nordmeereises vielen bewusst ist, haben solche „Expeditionskreuzfahrten“ zur Zeit Konjunktur, schreibt Sandra Walser im ersten Kapitel ihres Buches „Auf Nordlandfahrt“.
120 Jahre früher legt im Sommer 1896 in Hamburg das kleine Dampfschiff Erling Jarl zum Rand der damals bekannten Welt nach Spitzbergen ab. Organisiert hatte diese touristische Nordlandfahrt Wilhelm Bade. Der Wismarer hatte die Tücken des Packeises bereits persönlich als Zweiter Steuermann auf einer Nordpolarexpedition kennengelernt.
Sein Schiff war im Eis gesunken – und er und seine Mannschaft drifteten auf einer Eisscholle 1.200 Seemeilen südwärts, bis sie schließlich in letzter Minute gerettet wurden.
Konzept der Expeditionskreuzfahrt ist geboren
Der Polarheld Bade, der einige Jahre als Vortragsreisender seine Geschichte erzählte, organisierte anschließend die Nordlandfahrt auf der Erling Jarl. Er organisierte touristische Schiffsreisen als Expeditionen mit Expertenwissen. Bade war der Erste, der Polarkreuzfahrten regelmäßig und mit einem klaren Konzept veranstaltete. Bis heute bildet es die Grundlage aller Expeditionskreuzfahrten.
An Bord des Dampfers, der am 14. Juli 1896 Richtung Spitzbergen startet, befinden sich sieben Damen und 45 Herren. Unter ihnen ist auch der 29-jährige Schweizer Künstler Hans Beat Wieland. Er will die Landschaft des Polarkreises erkunden, die so viele Parallelen zu seiner Schweizer Heimat verspricht. Dort haben gerade die ersten Grand Hotels Einzug gehalten.
Mit seinen Werken erstellt der Maler wohl die erste umfassende Visualisierung Spitzbergens. Finanzieren kann er sich die gehobene „Lustfahrt“ durch den Auftrag der Leipziger „Illustrirten Zeitung“, für die er den Start der Forschungsreise im Ballon von Salomon August Andrée dokumentieren soll.
„Lustfahrt“ statt Frachtdienst
Auch Bade ist an Bord, allerdings nicht als Kapitän, sondern als Reiseleiter. Mit seinem großen Erzähltalent erobert er die Herzen der Gäste im Flug, so Walser. „Touristen“ gibt es erst seit kurzem, denn der kommerzialisierte Fremdenverkehr ist ein neues Phänomen Ende des 19. Jahrhunderts, und mit ihm die Kreuzschifffahrt.