233 Seiten über Seepferdchen und kein einziges Bild? Geht das? Ja! Wie wenig ich über Seepferdchen wusste, war mir vor der Lektüre dieses wirklich unterhaltsamen und lehrreichen Buches nicht klar. 233 Seiten später wusste ich: Ich würde sie von nun an mit neuen Augen sehen.
Wenn ich sie denn sehe. Weil das nämlich eher selten der Fall ist. Seepferdchen sind scheue Tiere und nicht einfach zu finden. Und das, obwohl sie sogar in unseren Meeren verbreitet sind, in der Nordsee genauso wie im Mittelmeer. In unsere Breiten kamen die Wasserrösschen wohl vor über drei Millionen Jahren.
Trotz ihres langen Stammbaums sind Seepferdchen laut Till Hein emanzipierte Tierchen, von denen die Genderforschung etwas lernen kann: Sie wechseln einfach das Geschlecht, sollte es einmal notwendig sein, und die Männchen tragen die Jungen aus. Das ist so ziemlich einzigartig in der Tierwelt.
Sind Seepferdchen Fische?
Im Unterschied zum Homo sapiens prahlen diese nicht mit prall gefüllten Geldbeuteln, sondern mit ihren gebärfreudigen Brutbeuteln. Das sagt zumindest Elena Theys, die „Seepferdchenflüsterin“, und sie muss es ja wissen. Schon ihr halbes Leben verbringt sie mit der Zucht seltener Seepferdchen und ist eine echte Expertin darin geworden. Till Hein widmet ihr ein ganzes Kapitel im Buch.
Aber Seepferdchen sind auch ungeheuer romantisch, zumindest hat es den Anschein. Ihr „Hochzeitstanz“ dauert bis zu neun Stunden. Und sie bleiben teilweise bis zum Tod zusammen, einander treu ergeben. Je nach Lebenssituation neigen sie aber auch – so Hein – zu Partnertausch und Gruppensex.
Die Rösser des Meeres sind zwar biologisch betrachtet Fische, aber wirklich schlechte Schwimmer. Im Vergleich zu Weinbergschnecken schneiden sie erbärmlich ab: Sie sind tatsächlich noch langsamer als diese gemächlichen Landlebewesen. Das Zwergseepferdchen bricht überhaupt alle Rekorde, es ist der langsamste Fisch der Welt. Seine Höchstgeschwindigkeit liegt bei gerade mal 0,054 Stundenkilometern.
In der griechischen Mythologie waren Seepferdchen die Nachfahren jener Rösser, die Poseidons Streitwagen zogen. Auf ihren Rücken reiten Meeresnymphen. Sie beflügeln also seit tausenden Jahren unsere menschliche Vorstellungswelt. Vielleicht liegt das daran, dass Seepferdchen eher skurril aussehen: Ihr Kopf ähnelt dem eines Pferdes, der Hinterleib einem Wurm oder einer Schlange. Wissenschaftlich benannt wurden sie wahrscheinlich deshalb im 16. Jahrhundert nach dem mythologischen Sagenungeheuer Hippokampos, der vorne ein Pferd und hinten ein Fisch ist.
Nicht aggressiv, doch erstklassige Jäger
Ihre Ausstrahlung ist meditativ, nicht aggressiv. Aber trotz ihres Aussehens und ihrer Trägheit sind sie erstklassige Jäger und ernähren sich von Kleinstkrebsen. „Sie sind weder Moralapostel noch klassische Heroen“, meint Hein. Doch als Lebenskünstler kämen sie rund um den Erdball gut zurecht.
Skurril und possierlich zugleich. Vielleicht erklärt das die Anziehungskraft auf den Menschen? Er liebt sie und verfolgt sie doch. Der Grund dafür ist die angebliche potenzsteigernde Wirkung durch die Einnahme von getrockneten und gemahlenen Seepferdchen. Der Universalgelehrte Conrad Gesner schrieb dazu einst: „Diese Thier sollen bewegen zu unkeuschheit.“ Und in der chinesischen Medizin dient gestampftes Seepferdchen deshalb als eine Art natürliches Viagra.
Vor allem aber geht die weltweite Population stark zurück durch die Zerstörung der Lebensräume, der unterseeischen Seegraswälder. Und durch die intensive Befischung der Gewässer, wodurch sie häufig als Beifang in den Netzen landen. Mittlerweile sind manche Seepferdchenarten leider stark gefährdet. Vielleicht aber trägt dieses Buch dazu bei, ihnen wieder mehr Augenmerk und damit Schutz zu gewähren?
Wie schmecken Seepferdchen eigentlich?
Der Wissenschaftsjournalist Till Hein sammelt in seinem Buch unzählige interessante Details über diese faszinierenden Wesen, die uns Menschen immer schon begeistern und beflügeln. Biologische Informationen werden unterhaltsam aufbereitet und spannende Erkenntnisse präsentiert aus der Bionik und Robotik, die beide vom Design des Seepferdchenschwanzes lernen wollen.
Hein sammelt kuriose Erkenntnisse aus der modernen Forschung und geht alten Mythen auf den Grund. Man erfährt sogar, wie Seepferdchen schmecken: leicht sandig. Vor allem aber geht es Hein um eines: um Aufmerksamkeit für die „launischen Faulpelze“ und „gefräßigen Tänzer“. Aufmerksamkeit, die sie vor dem Aussterben bewahren soll.
Till Hein ist ein großer Freund der „Rösser des Meeres“. Ihn faszinieren die Tiere, die in Seegraswiesen und Mangrovenwäldern zu Hause sind.
Autor: Till Hein
mare Verlag Hamburg 2021
240 Seiten, 22 Euro