Früher baute man Schiffe, Yachten und Boote, die so etwas wie eine Zufluchtsstätte vor den Elementen sein sollten. War man auf einem Törn, wurde die Zeit an der frischen Luft verbracht, man war „draußen“ und somit Wind und Wetter ausgesetzt. Man stieg „nach unten“ in die „Höhle“, in den düsteren „Keller“ oder eben in die dunkle, gerne von einer Funzel erhellte Kajüte, um Schutz zu suchen, um zu schlafen, zu kochen oder allzu Menschliches zu verrichten.
Wer vom Interieur seines Bootes redete, nahm Wörter wie „gemütlich“, „heimelig“ oder „schiffig“ in den Mund – Begriffe, die eine gewisse Geborgenheit ausdrücken sollten. Und falls man von innen nach außen schauen wollte, tat man dies entweder bei geöffneten Steckschotten vom Niedergang aus oder blickte durch winzige Bullaugen und schmalste Fensterchen auf die Wasseroberfläche.
Heute ist das Verständnis von draußen, pardon, outdoor ein völlig anderes. Denn wer im Freien ist, verbringt viel mehr Zeit drinnen. Das mag sich paradox lesen, ist aber gerade in den letzten Jahren zu einem wichtigen Faktor in der Wassersport-branche gereift: Freizeitkapitäne wollen mehr auf ihrem Schiff wohnen. Und das im ähnlichen Wohlfühlmodus wie zu Hause. Also wurden die Kajüten größer, komfortabler und ganz wie daheim die Appartements und Häuser … heller.
Glas ist ein tragender Werkstoff
Zugegeben, das war nun ein weiter Ausfallschritt von der düsteren Kajüte mit minimalstem Lichteinfall hin zur lichtdurchfluteten Kabine, Kajüte oder Deckshaus, wo man den totalen Über- und Durchblick behält. Doch in ähnlichem Zeitraffer hat in den letzten Jahren eine Entwicklung im Yachtbau stattgefunden, die ihresgleichen sucht: Der vermehrte Einsatz von Glas als Werkstoff mit zunehmender Tragfähigkeit.
Angefangen hat alles in der Mega- und Superyachtszene. Dort wo Geld keine Rolle spielt, wo sich Konstrukteure, Designer und Innenarchitekten an Einzelbauten austoben und schon so mancher Trend gesetzt wurde, der bis in den Serien-yachtbau für Normalmenschen hineinreichte.
Neben immer weiter anwachsenden Dimensionen bei der Bootslänge und der Motorkraft respektive Segelfläche ist eine der wichtigsten innovativen Entwicklungen beim Bau von Superyachten der gezielte und sich immer weiter ausdehnende Einsatz von Glas.
Da werden ganze Deckshäuser aus Glas gebaut, die gewagtesten, geschwungenen Rumpflinien mit Glas in Szene gesetzt, Aufbauten aus Glas errichtet, Designelemente mit Glas betont, meterlange Rumpfpartien aus Glas gebaut und Ballsaal große Eignerkabinen mit Licht durch riesige Glasscheiben geflutet. Neue Glas-Sorten wurden speziell für Superyachten entwickelt, immer weniger stützende Rahmenstrukturen sind notwendig, und sogar vollständig rahmenlose Glasflächen kommen mehr und mehr in Superyachten zum Einsatz.
Gorilla-Glas
Mit dem sogenannten „Gorilla-Glas“ wurden Scheiben entwickelt, die unter 2 mm dünn sind, aber deutlich stärker und resistenter als ungleich dickeres Verbund- und Sicherheitsglas. Gorilla-Gläser werden bei High-End-Smartphones und Tablets verwendet und sind nur in limitierten Auflagen auf dem Markt erhältlich. Fensterfronten an Superyachten kosten da mal schnell den Gegenwert eines Einfamilienhauses. Im Zusammenhang mit dem Werkstoff Glas scheint nichts mehr unmöglich: Erstens, weil man es sich leisten kann, und zweitens, weil man es sich leisten will.
Durchblick in Serie
Doch wie sieht das im Serienbootsbau aus? In Werften, wo man zwar schon längst die Vorzüge von Glas entdeckt hat, dasselbe aber noch vergleichsweise spärlich einsetzt? Statistisch gesehen wird Glas im Serienyachtbau ähnlich vermehrt verwendet wie etwa im Automobilbereich. So gibt die europäische Glas-Lobby während der letzten zehn Jahre einen Zuwachs von 15 Prozent bei Glasflächen im Automobil an. Ein ähnliches Wachstum erwartet man für die nahe Zukunft auch bei den Werften, die Serienyachten bauen. Nicht zuletzt, weil man dort von einigen technischen Innovationen profitieren kann und wird, die von den Mega- und Superyachten in die Normalverdiener-Regionen herüberschwappen.
„Marktnachfrage und technologischer Fortschritt treiben sich da gegenseitig an“, unterstreicht Raoul Bajorat, Entwicklungschef bei der HanseYachts AG. Der 47-Jährige hat vor seinem Wechsel in den Bootsbau zehn Jahre lang Glasfassaden im Bauwesen konstruiert und engagiert sich bei Hanse für den vermehrten Einsatz seines Lieblings-Werkstoffs. Und dies gleichermaßen auf Segel- wie auf Motoryachten der verschiedenen Marken der HanseGroup.
Früher wurde Glas grundsätzlich in einer Form gebogen. Oberschale, Unterschale, dazwischen das erhitzte Glas. Solche Formen haben jedoch den Nachteil, dass sie relativ teuer sind. Verrechnete man sich beim Bau – hier ein paar Grad zu viel, dort ein par Zentimeter zu wenig – konnte man die Formen gleich wegwerfen und musste finanziell recht aufwändig neue produzieren. Anders betrachtet: War das Glas aus der teuren Form hergestellt, war man für das Konstruktionsumfeld der Scheiben regelrecht festgenagelt und hatte kaum Spielraum für Improvisation.
„Das ist jetzt alles nicht mehr so“, stellt Raoul Bajorat klar. „Einige Zulieferer haben richtig Geld in die Hand genommen, um den Werften optimale Einsatzmöglichkeiten für Glas zu bieten. Die qualitativ wirklich hochwertigen Lieferanten sind nun in der Lage, Glas ohne individuelle Werkzeuge zu biegen und zwar zu bezahlbaren Preisen. Das geschieht ähnlich wie beim Biegen von Blechen in Kalander–artigen Maschinen, die ähnliche Möglichkeiten wie in der Blechver-arbeitung bieten. CNC-gesteuerte Zuschnittanlagen sowie frei programmierbare Ink-Jet-Systeme zur Bedruckung von Glas ergänzen den Maschinenpark.“
Gläserne Normen
An der Zusammensetzung des Glases habe sich im Lauf der letzten Jahre nur wenig geändert, so Bajorat weiter. „In den meisten Serienwerften werden weiterhin die gängigen Glas-Typen verbaut – schon allein wegen der Normen und Regeln, die uns aus Sicherheitsgründen auferlegt werden.“
Wie etwa im Automobilbau auch, ist Glas auf Booten und Yachten je nach Einsatzbereich unterschiedlichen Belastungen und Anforderungen ausgesetzt. So sind etwa Flächen, auf denen Seeschlag zu erwarten ist – bei Segelyachten wird das übrigens noch durch die Krängung verstärkt – anders zu handhaben als solche, die im Inneren beispielsweise in einer Tür eingesetzt werden. Entsprechend sind Belastungsvorschriften zu beachten, die der Gesetzgeber vorgibt und auf die er verständlicherweise penibel achtet. Bajorat: „Wir arbeiten da nach strikten Vorgaben und werden rigoros kontrolliert.“
Entsprechend sind herkömmliche Sicherheitsgläser noch gängige Glasscheibentypen, die in Serienyachten eingesetzt werden. Wie etwa das Ein-Scheiben-Sicherheitsglas, das einer thermischen oder chemischen Prozedur unterzogen wird und sich beim Abkühlen in sich verspannt. Solche Scheiben sind bei stumpfen Schlägen sehr resistent und zerbröseln bei Schlägen mit einem harten Gegenstand in viele Teile, an denen man sich seltener schneidet (Seitenscheiben bei Autos).
Verbundgläser, bei denen zwischen zwei und mehr Glasschichten spezielle Folien eingearbeitet werden und die bis zu schusssicheren Varianten aufgestockt werden können, sind vor allem im Wellenschlagbereich von Vorteil, wie etwa an Frontscheiben von Deckshäusern oder im seitlichen Rumpfbereich, unweit der Wasseroberfläche.
„Beide Glastypen kann man sogar verbinden“, sagt Raoul Bajorat. So entstehen Glasvarianten, die z. B. strukturell höchsten Belastungen ausgesetzt werden können.
Wird es also bald den durchsichtigen Rumpf oder „wenigstens“ transparente Teilbereiche im Rumpf geben, etwa vom Deck hinunter zum Kiel und wieder aufwärts? „Rein technisch wäre das machbar“, sagt der Hanse-Entwicklungschef dazu. So werde in der Baubranche Glas schon seit Jahrzehnten tragend gerechnet, teilweise durch Zulassungen im Einzelfall. Riesige, tragende Glasflächen etwa in Flughäfen oder in modernen Hochhäusern sind schon seit zwanzig Jahren keine Seltenheit mehr.
Wer im Glashaus sitzt
„Mineralglas ist im Yacht- und Bootsbau aber nicht als strukturelles Material in den Normen vorgesehen. Weder als Schott, als Spant oder als Stringer … noch gibt es keine genormten Rechenverfahren, weshalb Glas als strukturelles Element im Serienyachtbau nicht zur Anwendung kommt. Noch nicht.“
Nach wie vor brauche jede Scheibe einen genormten Rahmen, der die Struktur trägt, wobei die Scheibe im Prinzip nur als Deckel fungiere, erklärt Bajorat weiter.
Doch in vielen europäischen Ländern und auch auf EU-Ebene wird bereits über eine Änderung der Normen nachgedacht. Die neuen, innovativen Techniken im und rund um das Glas machen ein Umdenken nötig – nicht zuletzt, weil Glas so ein weiterhin wichtiges Teil des technischen Fortschritts bleiben wird.
Dass es allerdings die im wahrsten Sinne transparenten Boote geben wird, ist unwahrscheinlich. Aus einem ganz simplen Grund: Was durchsichtig ist, heizt sich auch relativ schnell auf.
„Bei aller Liebe zum Glas müssen wir im Yachtbau darauf achten, dass wir kein Gewächshaus auf den Rumpf pflanzen“, gibt Raoul Bajorat zu bedenken. Denn auf Booten herrschen diesbezüglich die gleichen Gesetze wie in Gebäuden: Ist das Licht erstmal durchgedrungen, bringt es auch Wärme mit. An Gebäuden begegnet man einer starken Sonneneinstrahlung durch Lamellen, die außen vor dem Glas angebracht werden. Eine Lösung, die etwa bei einem fahrenden Boot wenig praktisch und unrealistisch wäre.
Zwar sind im Superyachtbau auch hier bereits funktionierende Lösungen im Einsatz – thermische Isoliergläser, Verbundgläser mit Jalousiesystemen, die im Glaszwischenraum eingelassen sind oder Gläser, die sich per LCD-Technik unter Strom verdunkeln – doch handelt es sich hier um Systeme, die extrem aufwändig in der Produktion und entsprechend teuer im Einkauf sind.
Hinter getönten Scheiben
Und warum keine dunkel getönten Scheiben wie beim Auto? Die Antwort ist naheliegend: Weil auch dafür Normen erfüllt werden müssen, die durchaus ihren Sinn haben. Glas ist vor allem bei Booten mit Innensteuerständen ein sicherheits-relevanter Faktor. Es gibt Normen, die eine Mindestanforderung an die Sicht für solche Steuerstände stellen. Man muss einen weitgehend ungehinderten Blick auf die Wasseroberfläche haben, es darf nur ein Minimum an toten Winkeln geben und dafür darf die „Lichtmindesttransmission“ nicht unterschritten werden.
So sind etwa am Markt erhältliche Scheiben mit Blau- und Grüntönung durchlässig genug, die derzeit sehr beliebten Farbvarianten wie Braun oder Braun-Grau lassen jedoch für einen Primärsteuerstand nicht genügend Licht durch.
Viele (Motorboot)-Werften begegnen dem, indem sie den Hauptsteuerstand auf die Flybridge setzen und eine oder zwei Etagen tiefer im verglasten (und getönten) Bereich nur einen Sekundärsteuerstand einrichten. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer keine Flybridge hat, darf auch keine dunkel getönten Scheiben einsetzen. „Eine durchaus nachvollziehbare Regel“, sagt Bajorat dazu. „Wer tonnenschwere Boote über die Wasser steuert, sollte auch uneingeschränkten Blick auf das Geschehen rundum haben.“
Es wird also auch in Zukunft das gläserne Boot höchstens im übertragenen Sinn geben. Doch der Serienbootsbau wird sich dem Trend zu mehr Durchblick und hellem Interieur kaum verschließen – ganz im Gegenteil: Glas hat Zukunft, in jeder Hin- und Durchsicht.
Glaslieferanten der Bootsindustrie:
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