Ich werde alle Qualen auf der Stelle vergessen. Also, bitte erinnert mich daran, das nie wieder zu machen! Es ist wichtig, einmal dabei gewesen zu sein. Und es wäre großartig, ins Ziel zu kommen. Das reicht.“
Dann rückt das Ziel immer näher:
„Endspurt: Der Tracker sieht mich wieder auf Platz zwei. Doch ich beachte die Rangfolge nicht. Anders als geplant habe ich in den letzten Tagen nur wenig geschlafen. Ich stehe unter Strom, bin hochgradig angespannt. Mein Körper funktioniert wie ferngesteuert. Er schmerzt, ist ausgelaugt, ich bewege ihn wie einen Fremdkörper. Mein Geist hingegen ist hellwach. Ununterbrochen spiele ich alle taktischen Varianten des Endspurts durch.“
Die letzte Nacht
Wer die Vendée Globe live verfolgt hat, wer mit Boris Herrmann mitgefiebert hat, die ganze letzte Nacht hindurch, wer mitdiskutiert hat in den Foren, welche wohl die beste Route durch die Biskaya ist, wer wach blieb, um dabei zu sein bei diesem fulminanten Finale, das es so bei der Vendée Globe zuvor noch nie gegeben hat, der wird vielleicht enttäuscht sein von diesem Buch, ausgerechnet bei dem Kapitel, das allen im Gedächtnis geblieben ist.
Die Sensation ist zum Greifen nahe. Boris Herrmann, der zurückhaltende Deutsche, könnte tatsächlich als erster Nicht-Franzose die Vendée Globe gewinnen – bei seiner Premiere. Wegen der Rettungsaktion von Kevin Escoffier haben die beteiligten Skipper eine Zeitgutschrift erhalten. Das macht den Zieleinlauf unüberschaubar. Zudem werden fünf Segler binnen weniger Stunden Les Sables d’Olonne erreichen. Das gab es noch nie.
„Ich weiß nicht, wie viel Schlaf ich in den letzten 48 Stunden hatte. Es können nur ein paar Stunden gewesen sein. Ich weiß, dass ich mich ausruhen muss, und versuche mehrfach, kurz einzunicken. Aber wie bloß soll ich jetzt zur Ruhe kommen? Ich kann es nicht fassen, dass bald alles vorbei ist. Und dass ich kurz vor dem Ziel auf einem so guten Platz liege.
Um 19.13 Uhr schicke ich eine WhatsApp-Nachricht an Yannick Bestaven: „Na, wie wird das Podium aussehen?“
„Keine Ahnung, Boris. Das weiß ich erst, wenn die Linie überquert ist. Aber ich sag dir: Wir werden beide unseren Arsch auf das Podium heben ;-)“
„Ich denke, du gewinnst. Und ich werde Dritter. Glaube ich.“
„Nichts ist entschieden, Boris. Es wird sehr eng!“
Nur ein kurzes Nickerchen
Danach macht Herrmann ein kurzes Nickerchen, nachdem er alles akribisch gecheckt hat. Die Kollision der „Malizia II“ mit dem Fischtrawler kommt völlig unerwartet.
„Um 20.26 Uhr reißt mich ein lautes Krachen aus dem Schlaf. Ein harter Schlag, das Boot rumst gegen irgendetwas, stoppt abrupt. Ich hechte aus der Koje, schalte die Stirnlampe ein und springe ins Cockpit. (…) Um Gottes willen! Nur ein paar Meter entfernt, auf der Steuerbordseite, glänzt im Strahl meiner Stirnlampe eine riesige, dunkelgrüne Wand. Das kann doch nicht wahr sein! Ich bin mit einem Schiff zusammengestoßen!“
Die Frage, die die Segel-Community anschließend tagelang beschäftigte, klärt das Buch leider nicht auf: Wie konnte das passieren? Warum zum Teufel haben die Alarmsysteme nicht angeschlagen? Herrmanns Antwort auf diese Fragen im Buch: „Ich habe keine Ahnung.“ Eine Antwort wäre für Segler schön gewesen, für alle anderen ist es unerheblich.
Ein Leitfaden für Lebensträume
Das Buch konzentriert sich lieber auf das Schicksal des Skippers selbst. Und das ist vollkommen legitim. „Ich fühle mich nicht gelähmt, nicht unter Schock stehend. Ich rase auch nicht vor Zorn, frage mich nicht verzweifelt, wie das passieren konnte. Ich spüre nur, wie eine wilde Entschlossenheit mich packt: Ich werde es ins Ziel schaffen! Ich bin nicht um die ganze Welt gesegelt, um jetzt aufzugeben.“
Das Buch findet einen versöhnlichen Ausstieg, trotz des dramatischen Endes. Eine Art Leitfaden, eine Motivationshilfe – nicht nur für Boris Herrmann, sondern für jeden Menschen. „Vor dem Start hatte ich mich manchmal gefragt, was eigentlich passiert, wenn man es tatsächlich schafft, seinen Lebenstraum zu erfüllen. Was kommt danach? Es ist einfach: der nächste. Es gibt immer einen Lebenstraum.“
Boris Herrmann wird bei der Vendée Globe 2024 wieder an den Start gehen. Die Vorbereitungen laufen bereits.
Allein zwischen Himmel und Meer
C. Bertelsmann
24 Euro (D), 24,70 Euro (A), CHF 33,90
Hardcover, 320 Seiten
mit farbigen Abbildungen
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