Der Druck der Erwartungen seiner Landsleute sollte während der gesamten Reise auf de Gerlache lasten. Das war nicht zuletzt auch der entscheidende Faktor bei seiner Entscheidung, sich mitsamt Schiff und Mannschaft – und entgegen der Abstimmung der Besatzung – im Packeis der Antarktis einschließen zu lassen. Diese Entscheidung war nicht nur kalkuliert, sondern auch zynisch.
Das einzige wertvolle Mitbringsel waren Geschichten

„De Gerlache wusste also, dass es entsetzliches Leid mit sich bringen konnte, wenn er zuließ, dass die Mannschaft im Eis eingeschlossen wurde; sicher war ihm jedoch ebenfalls klar, dass dieses Leid möglicherweise auch eine Investition war, die sich später auszahlen würde, und zwar nicht nur in finanzieller Hinsicht.“
Entsetzliches Leid sollte die Mannschaft zu genüge finden – einmal vom Eis eingeschlossen bleibt den Männern nichts anderes übrig als abzuwarten. Während sie sich anfangs noch mit Erkundungstouren und wissenschaftlicher Arbeit zu beschäftigen wissen, wächst mit der Länge der Nacht auch ihre Antriebslosigkeit. Hinzu kommen Hunger, Skorbut, die rachsüchtige und unnachgiebige Natur und letztendlich der um sich greifende „Polarwahnsinn“, der seinen Höhepunkt erreicht, als die Sonne sich für 70 volle Tage verabschiedet und die endlose Nacht anbricht.
Die Ära der Abenteurer
Von Anfang an war die Suche nach dem Abenteuer die eigentliche Motivation der Reise gewesen. Waren die meisten Expedition des 19. Jahrhunderts noch mit dem Ziel geführt worden, die Kolonialgebiete des jeweiligen Landes zu erweitern, strebte der Westen nun vermehrt danach, die Welt zu verstehen als sie nur zu erobern. Und so war auch die Reise der Belgica offiziell eine Forschungsexpedition.
Nachdem jahrzehntelang um den Nordpol gewetteifert wurde, wandte de Gerlache sich als einer der ersten dem bisher unerforschten Südmeer zu. Doch obwohl die Besatzung der Belgica auf ihrer Reise so viele Daten und Funde sammelte, dass Wissenschaftler letztendlich 40 Jahre brauchen würden, um sie auszuwerten und zu veröffentlichen, war die Wissenschaft letztendlich nur ein Vorwand:
„Die belgische Antarktis-Expedition war als wissenschaftliche Mission ausgegeben worden, doch die eigentliche Motivation bestand in nichts anderem als romantischer Abenteuerlust. Der Grund für de Gerlaches Reise war der weiße Fleck ganz unten auf der Weltkarte, der ihn geradezu magnetisch anzog.“
Etwas Mystisches
Das Südmeer, die Antarktis, hatte etwas Mystisches an sich, „(…) ebenso wie die anderen fernen Orte in Vernes Werk: der Mittelpunkt der Erde, die abgründigen Tiefen des Ozeans, die Oberfläche des Mondes (…)“, und übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Abenteurer dieser Zeit aus. Immer wieder schlägt Julian Sancton in seinem Buch Brücken zu der damaligen literarischen Hochzeit der Abenteuerromane.
Jules Verne, der Vater der Abenteuerliteratur, lebte von 1828 bis 1905 und war somit Zeuge einiger der bedeutendsten Expeditionen der Geschichte. Nach der Rückkehr der Belgica wagte sich Verne sogar an die Fortsetzung seines Klassikers „20.000 Meilen unter dem Meer“. In „Die Eissphinx“ wendet er sich erstmals Richtung Südpol.

„Die Vorstellung vom Nord- und Südpol als einer unwiderstehlichen, heimtückischen Macht, die Menschen anzieht und in den Wahnsinn treibt, war ein Thema, das die gesamte Literatur des 19. Jahrhunderts (…) dominierte.“
Die Bedeutung der literarischen Ära hatte wiederum auch einen direkten Einfluss auf das alltägliche Leben der Besatzung der Belgica. So verweist Sancton immer wieder auf die literarischen Anklänge, die die Tagebücher der Matrosen und auch die der Wissenschaftler durchziehen. Sie sind auf Einflüsse wie Jules Verne oder Edgar Allen Poe zurückzuführen oder verweisen teilweise direkt auf sie.
Bei der Rückkehr der Belgica nach Belgien beschrieb ein Journalist „(…) sie allesamt als Kapitän Hatteras, wie er leibt und lebt. Auch wenn er den Vergleich gewählt hatte, um das Verdienst der Männer herauszustellen, lag er mit seiner Anspielung auf Jules Vernes Helden, der in dem 1866 erschienenen Roman Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras als Wahnsinniger vom Nordpol zurückkehrt und den Rest seines Lebens in einem Sanatorium fristet, gar nicht so falsch.“
In den Fußstapfen von Jules Verne
Julian Sancton schafft mit seinem Buch etwas, was nicht vielen gelingt. Er hat eine packende Abenteuergeschichte geschrieben, die einen nicht mehr loslässt. Auf leichte und erfrischende Weise vermittelt sie Wissen nicht nur über die Expedition der Belgica an sich. Er bietet gleichzeitig Einblicke in die geschichtliche, politische und literarische Situation der damaligen Zeit.
Auf jeder einzelnen Seite macht sich seine intensive Recherche und seine eigene Begeisterung und Obsession mit der Expedition bemerkbar. „Es ging nicht allein darum, was sich Tag für Tag ereignet oder welche Position das Schiff bei seiner verworrenen Drift erreicht hatte. Sondern wie es sich für die Männer an Bord angefühlt haben musste, so fantastische Entdeckungen zu machen und zugleich derartig widrige Umstände zu ertragen.“
Am Ende verwundert es nicht, wenn man – trotz aller Gefahren, trotz allem Leids – die Besatzung der Belgica ein wenig um ihre Erfahrungen beneidet und sich selbst in das ewige Eis wünscht.
Über den Autor
Julian Sancton ist Journalist und Autor. Außer für Vanity Fair und Esquire schrieb er auch für The New Yorker. Er berichtete von jedem einzelnen Kontinent der Welt. Die Antarktis bereiste er zum ersten Mal bei seiner Recherche für „Irrenhaus am Ende der Welt“.

von Julian Sancton
übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrike Frey
gebunden, 495 Seiten
ISBN-978-3-89029-544-2
26,00€ (D)
Malik, Piper Verlag, 2021