Ein Mann fährt über den Ozean. Doch etwas geht daneben, und er stürzt über Bord. Kein Suizid- oder Mordversuch, sondern ein eher peinliches Missgeschick. Der kleine Fehltritt hat schwerstmögliche Folgen, nämlich akute Todesgefahr. Das alles erfährt das Publikum bis Seite 23 des Buchs „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis. Die folgenden 140 Seiten spielen dann überwiegend an seinem neuen Aufenthaltsort: im Wasser.
Dort versucht Henry Preston Standish, ein erfolgreicher Börsenmakler an der Wall Street, den zu Hause eine reizende Frau, zwei hübsche Kinder und eine großzügige Wohnung am Central Park erwarten, sich so gut es geht einzurichten. Er kann schwimmen, und das Wetter ist sehr ruhig. Er hat dort auch viel Zeit, denn auf der „Arabella“ bemerkt man sein Fehlen anfangs nicht. Es ruft niemand „Mann über Bord!“, das Ereignis geht also gewissermaßen an der Öffentlichkeit vorbei.
Und auch im fast unbewegten Wasser nimmt niemand Notiz von Standish, was ein jähes Ende durch eine Haiattacke ausschließt. Der Mittvierziger paddelt also erst einmal unmotiviert umher, beobachtet das Schiff beim Wegdampfen, unterdrückt eine Panikattacke und hat nun viel Zeit zum Nachdenken.
Daran lässt der Autor uns teilnehmen, und diese Gedanken und Lewis äußerst zurückhaltende Reflexion derselben machen das Buch zum Genuss, auch wenn das bei diesem Thema grotesk erscheinen.

Zwischendurch blendet Lewis über aufs Schiff, wo man sich sehr gemächlich und fast unwillig über die Abwesenheit eines Passagiers im Klaren wird, und es gibt wieder und wieder Rückblenden, die uns in die Vorgeschichte einführen und mehr und mehr enthüllen, warum Standish überhaupt an Bord der Arabella ging und welche kleinen und großen Ausrutscher dem letzten Ausrutscher vorausgingen, der Standish vom Heck des Frachters auf Niveau des Meeresspiegels beförderte.
Standish leidet an einer sehr modernen Krankheit
Denn der Mann ist nicht auf einer Dienst- oder Urlaubsreise. Standish leidet an einer sehr modernen Krankheit, die dem 1937 erstmals veröffentlichten Buch bemerkenswerte Aktualität verleiht: Eine innere Leere hat ihn einige Monate zuvor befallen, eine mentale Lähmung, die ihm Gefühlsregungen aller Art, sowohl freundliche wie auch ablehnende, für jegliche seiner bisher liebgewonnenen Tätigkeiten unterbindet. Eine Art Midlife-Crisis also.

Seine Frau, auch sie ein Idealbild der Mutter und Ehefrau, nimmt das verständnisvoll hin. Der Mann auf Selbstsuche befindet sich bereits auf der Rückreise, als das Buch beginnt. Ob er sein Leiden überwunden hat, bleibt offen. Das ist aber für den Gegenstand der Betrachtung gleichgültig.
Denn hier geht es um den Sturz aus der behüteten Routine des Bordalltags ins Nichts und das Danach. Was fühlt so einer? Wie verbringt er die Zeit, bis … – ja bis die Rettung naht oder bis ihn die Kräfte verlassen, er Wasser zu schlucken beginnt und schließlich jämmerlich ersäuft?