Der ehemalige Militärarzt Sumner heuert auf dem Walfangschiff „Volunteer“ an, das im Jahr 1859 von der englischen Hafenstadt Hull aus Kurs auf grönländische Gewässer nimmt. Mit an Bord ist der gewissenlose Harpunier Henry Drax. Nach dem Mord an einem Schiffsjungen wird er zu Sumners ärgstem Widersacher in der Zwangsgemeinschaft der Seeleute beim Walfang vor 150 Jahren. Und er wird zu seinem moralischen Antagonisten.
Als der frisch gebackene Schiffarzt mit der „Volunteer“ in See sticht, ist der Walfang als ökonomisches Modell bereits im Niedergang begriffen. Die gnadenlose Jagd der vorangegangenen Jahrzehnte hat den Artenbestand dezimiert. Zudem lösen Petroleum und Paraffin den Walrat als Rohstoff zur Lichterzeugung ab. Das weiß auch der Schiffseigner Jacob Baxter, der zusammen mit wenigen Komplizen einen Versicherungsbetrug plant. Das Schiff soll untergehen. Während die ahnungslose Mannschaft – alles raue und ungeschliffene Gestalten – noch von üppigem Fang und gefüllten Laderäumen träumt, ist das Schicksal des Schiffes längst besiegelt.

Sumner bringt seine Geheimnisse mit an Bord
Sumner selbst hat keine weiße Weste und bringt seine eigenen Geheimnisse mit an Bord. Nach einem Einsatz in Indien wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen. Eine Beinverletzung hat ihn hinkend und opiumsüchtig gemacht, der Illusionslosigkeit seiner Existenz hat er sich längst ergeben. Dennoch ist er der einzige an Bord, der auf die Misshandlung und den Mord an einem der Schiffsjungen reagiert und eine Aufklärung versucht.
Sein Widersacher ist der Harpunier Drax, ein Mensch ohne jedes Gewissen und getrieben allein vom rohen Drang nach Bedürfnisbefriedigung. Sumners moralische Opposition löst eine Spirale der Gewalt aus. Die Katastrophen nehmen ihren Lauf, und am Ende warten auf alle an Bord die erbarmungslosen Schrecken des Polarmeeres.
Am nächsten Tag hat Sumner so hohes Fieber, dass er weder rudern noch steuern kann. Sie fahren durch dichte Nebelbänke und eiskalte Regen- und Graupelschauer nach Osten, und er kauert zitternd und von Übelkeit geplagt unter einer Decke im Heck. Hin und wieder plärrt Cavendish einen Befehl, aber darüber hinaus ist außer dem Ächzen der Ruder, das dem rasselnden Atem eines Sterbenden gleicht, und dem asynchronen Plätschern der Ruderblätter im Wasser kein Laut zu hören.
Die maritime Welt von Ian McGuire ist düster und roh
Die maritime Welt, die der Autor Ian McGuire vor uns auferstehen lässt, ist düster, roh, schmutzig und gewalttätig. Das Sterben ist ein allgegenwärtiger Zeitgenosse, in den Hafenspelunken oder an Bord der Schiffe. Den Menschen in dieser Welt begegnet im Wesentlichen Grausamkeit und Härte. McGuire schont seine Leser nicht. Er nimmt uns mit in die Trostlosigkeit, den Schmutz und den Gestank, in die dreckigen Gassen des Hafenviertels und auf das vor Blut und Fett triefende Deck eines Walfängers. In diesem schonungslosen Realismus liegt die besondere literarische Ästhetik des Romans. Das entwickelt nach und nach einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann.

Jenseits dieser besonderen Sprachlichkeit ist Ian McGuire ein Buch gelungen, das historischer Seefahrtroman und Kriminalgeschichte zugleich ist. Und darüber hinaus eine bildgewaltige Allegorie auf die Abgründe des menschlichen Daseins. Seine Schilderungen der menschlichen Rohheit und Gier – mit allen ihren Konsequenzen – entfalten eine ebensolche Wucht wie die Beschreibungen des Polarmeers in seiner beiläufigen, schrecklichen Schönheit:
„Nach wenigen Stunden hat der Sturm offenbar ein konstantes Stadium erreicht […], als sich plötzlich die Eisfläche selbst, die Oberfläche, auf der sie ruhen, mit einem beängstigenden Knirschen nach oben wölbt. Durch einen Vorhang dichten Schneetreibens sieht er am Rand der Eisfläche einen blauen, zerklüfteten Eisberg, der vom Wind gepeitscht ostwärts gleitet […].
Der Eisberg bewegt sich in schneller Schrittgeschwindigkeit vorwärts, streift den Rand der Eisfläche und türmt dabei hausgroße Eisschollen auf wie Feilspäne aus den Kiefern eines Schraubstocks. Der Boden bebt unter Sumners Füßen; zwanzig Meter entfernt tut sich ein zickzackförmiger Riss auf und Sumner fragt sich einen Moment lang, ob das ganze Plateau unter dem Druck zerschellen und alles, Zelte, Walboote, Männer, ins Meer stürzen wird.“

Bildgewaltig und düster
Wer ist des Menschen ärgerer Feind? Die die gewaltige, ungezügelte Natur oder der Mensch selbst, der ohne moralische Schranken die eigenen Bedürfnisse befriedigt? Ian McGuire bleibt die Antwort am Ende schuldig. Aber er beschert uns mit seinem Roman ein Leseerlebnis der besonderen Art – bildgewaltig und düster.
Ian McGuire: Nordwasser
mareverlag Hamburg
304 Seiten, 22 Euro