Klaus Theweleit ist ein solitärer Kulturtheoretiker, bei dem Wissenschaftler, Nerd und Fan fröhlich durcheinanderspielen. Und er ist ein wichtiger Analyst der MeToo-Verfasstheit, lange bevor es das Schlagwort gab.
Seine „Männerphantasien“ schlugen 1977 epochal ein. Der bekennende „Hausmann“ zeichnet nach, wie sehr das Soldatische den Mann bis ins intimste Private hinein bestimmt. Sein Fazit ist längst eine Binsenweisheit: Männer sind gepanzerte Schweine.
Im „Buch der Könige“ von 1988 guckt er hinter die psychosozialen Produktionsbedingungen von Großkünstlern wie Bertolt Brecht, Gottfried Benn oder Knut Hamsun. Sein Fazit ist seit #MeToo eine Binsenweisheit: Künstler sind Musenfresser.
Neben feministischer Sensibilisierung kann man von Theweleit aber auch die pure Freude am Jonglieren mit überquellendem, unterschiedlichstem Material lernen. Der Reichtum seiner Privatmythologie zwischen Trivial- und Hochkultur, zwischen Marvel-Comic, Hollywood und Dantes Höllenkreis lässt Midas erblassen. Verzetteln gehört zu Theweleits schönsten Tugenden. Er schnüffelt sich durch die Blumenwiese der Kulturhistorie, die Leser/innen immer seiner Spürnase hinterher, von Carl Barks über Alice Miller bis zu Richard Wagner.
Nimm das, Kittler!
In seinem Essay „a-e-i-o-u – Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues“ adressiert Theweleit die kleinste Zielgruppe seiner Arbeiten. Männerphantasien richtete sich an alle, das Buch der Könige an die Kulturblase, der Essay vorrangig an Kittler-Abtrünnige (und Wassersportler, die bisher daran zweifelten, dass sie das Rückgrat der europäischen Kultur sind). Theweleit führt eine Detail-Fehde mit dem Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler (auf den er generell große Stücke hält) aus.

Theweleit setzt gegen diese Singularität die Gemeinschaft aus Sängern und Ruderern auf den Schiffen der Griechen vor Homer: „Auf See also, wo die Vorgänge in aller Ohren waren, konnte alle Welt an seiner (des Sängers) Entwicklung teilhaben und das Vokalalphabet schließlich in genau der dann zur Norm gewordenen Reihenfolge lernen.“ Nimm das, Kittler!
Seine Kampfschrift kommt aber eher gemütlich verfasert daher. Der assoziativ-saloppe Plauderton rutscht ins Onkelhafte: „Aber Wasser war da; das, was Katzen gar nicht mögen (die damit aus dieser Geschichte maunzend sich verabschieden).“ Wissenschaftliche Genauigkeit tänzelt ins Spekulative: „Was tun denn, neben den Ruderern, die Sänger den ganzen Tag auf See? Die Klappe halten? Nie und nimmer. Natürlich üben sie.“ Natürlich … Der Text ist gespickt mit charmant relativierenden Formulierungen wie „dürfte“, „sehr wahrscheinlich“, „sollte man sich vorstellen“. Dass Theweleit ihn mit diffusen See- und Himmelsstücken von William Turner und Emil Nolde garniert, kann man ihm als selbstironischen Kommentar anrechnen.
Hexameter, Blues, Queer
Spannend wird es beim abenteuerlichen Zusammendenken weit auseinanderliegender Welten, einer Spezialität von Theweleit. Beim Hexameter der Griechen um 1000 v.Chr. sieht er genau wie beim Blues der Afroamerikaner um 1900 n.Chr. die Oral Culture als Identitätsversicherung der Heimatlosen.
Und die antiken Argonauten sind Vorgänger der heutigen „QueergonautInnen, welche mit allen Kräften rudern, dem Binär-Modell zu entkommen“.

Und sieht man nicht allerorts, dass die QueergonautInnen zum Konsonantenalphabet zurückgekehrt sind? Sie schreiben Phönizisch nur noch KRZBRG, FCK NZS, GTH. Wofür GTH steht? Goethe selbstverständlich! Oder Go To Hell? Wenn man Theweleits pessimistischem Fazit folgt, kann es jedenfalls kein Fehler sein, sich mit seinem Schiff zum Point Nemo zu verziehen.
a-e-i-o-u – Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues
Klaus Theweleit
Matthes & Seitz, 2023