„Ist das wirklich so leicht …?“ Diese Frage stelle ich mir mehrmals im Lauf der Lektüre dieses Buchs. Womit nicht das physische Handling einer Segelyacht im Sturm gemeint ist. Im Handbuch Sturmtaktik von Lin und Larry Pardey geht es um „solide, effektive, gründlich einstudierte Strategien“ in gefährlichem Wetter. Ihre immer wieder angewandte Taktik ist das Beiliegen, und es scheint den Pardeys erstaunlich leicht von der Hand zu gehen. Passend dazu ihr Satz: „Keep It Simple, Sailor“.
Leicht ist auf jeden Fall Lin Pardeys Schreibstil. Wären da nicht die Schilderungen gefluteter Kojen, zerborstener Pantryausstattung und geprellter Rippen, könnte man ihre Berichte eigener Sturmfahrten auf den kuttergetakelten Langkielern Serrafyn (24 Fuß lang) und Taleisin (28 Fuß lang) für flotte Segeltörns mit etwas mehr Wind halten.

Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass da außerdem ein Skipperpaar auf weltweiter Fahrt unterwegs ist, das sich blind versteht. Und das sich ernste Situationen mit Humor erträglicher macht. Diese „Kür“ der Sturmtaktik – die Psychologie an Bord beziehungsweise im Sturm – wird aber nur gestreift.
Pflichtprogramm: Beidrehen, Trysegel, Para-Anchor
Als „Pflicht“ aller Sturmtaktiken favorisiert das Seglerpaar klar die Dreifaltigkeit aus Beiliegen, Para-Anchor und Trysegel. Das Beiliegen schont Kräfte und Material und bringt Ruhe ins Schiff. Sorgfältig ausbalanciert schafft es eine Wirbelschleppe als Bastion in Luv, die heranrollenden brechenden Wellen einen großen Teil ihrer Energie nimmt. Para-Anchor und solide Sturmbesegelung sind die Werkzeuge, um das Schiff hinter der Wirbelschleppe – dem „Slick“ – zu halten.

Ein Blick in meine Segelbibliothek zeigt: Natürlich ist Beidrehen als Sturmtaktik keine neue Erfindung. Es wird aber eher Langkielern als modernen Konstruktionen mit Flossenkiel zugeschrieben. Selten wird das Manöver differenziert betrachtet. Damit räumen die Pardeys beharrlich auf.
Sie beschreiben, wie Besegelung und Ausrüstung für verschiedene Schiffstypen sinnvoll kombiniert werden können. Ihrer Meinung nach kann so gut wie jedes Boot stabil vor einer schützenden Wirbelschleppe gehalten werden.
Beidrehen in fünf Teilen plus Anhang
Obwohl sich das Handbuch Sturmtaktik im Kern um die Durchführung des Manövers „Beidrehen“ bewegt, ist der Inhalt ebenso bunt wie die Gestaltung der fünf sehr unterschiedlichen Abschnitte. Der ausführliche, aber durchaus sympathische Erzählstil zieht sich dabei vergleichbar mit Adlard Coles’ und Peter Bruces „Heavy Weather Sailing“ oder Moitessiers „The first Voyage of the Joshua“ durch das gesamte Buch.
Tatsächlich beziehen die Pardeys sich immer wieder auf dortige Schilderungen. Im ersten Teil stellen sie eigene Recherchen zu bekannten Notfällen – zum Beispiel dem Fastnet Race 1979 – ihren eigenen Sturmerfahrungen gegenüber. Sie würdigen die Vorteile der bekannten Sturmtaktiken, und sie kommen zu einem einfachen Schluss: dass Beidrehen die sicherste, weil die am wenigsten ermüdende und unfallträchtige Variante besonders für kleine Crews zu sein scheint.

Die Teile 2 und 3 des Handbuchs dürften Freunden knapperer Texte entgegenkommen. Teil 2 widmet sich im FAQ-Stil dem detaillierten Manöverablauf, dem Reffen je nach Takelung und schließlich den Fragen zu Auswahl, Größe, Einsatz sowie Risiken eines Para-Anchors. Teil 3 geht chronologisch und pragmatisch vor. In kommentierten Checklisten spannen die beiden Autoren einen Bogen von der Wahl des Bootes und dessen Sturmausrüstung über die Sturmvorbereitung hin zum konkreten Ausführen des Beidrehens.
Wie ist es anderen im Sturm ergangen?
Wie ist es anderen im Sturm ergangen? Den ausführlichen Erzählfaden aufgreifend, gewährt Teil 4 persönlichen Berichten anderer Crews Raum. Im Vergleich verschiedener Taktiken, Wetterbedingungen, Crewstärken, der Vorerfahrung und Bootstypen beschäftigen sich die Pardeys mit den Vorzügen und Nachteilen der gewählten Sturmtaktiken. Und sie geben Verbesserungsvorschläge.
Noch einmal knapper und praktisch kommt Teil 5 daher. Mit einer Reihe von Zeichnungen und Bildern dokumentiert das Seglerpaar verschiedene mögliche Ausrüstungskombinationen. Zusammen mit Details zum Thema Sturmbesegelung kommentieren sie auch Schwachstellen und geben Tipps zur Ausrüstung der Ruderanlage.
„Sturm ist im Grunde eine unnötige Situation“, propagieren die Pardeys bereits auf den ersten Seiten Ihres Werks. Konsequenterweise schließen sie im Anhang mit einen Überblick über Deutung von Anzeichen tropischer Wirbelstürme. Sie beschreiben deren typischen Verlauf und geben Tipps zum Manövrieren im Sturm oder, besser gesagt, zur Vermeidung des Sturms.
Mein Fazit
„Keep It Simple, Sailor“ – das passt. Denn die Pardeys beschreiben schlüssig ein beherrschbares Manöver und den Einsatz solider, schnörkelloser Hilfsmittel. Der Titel „Handbuch Sturmtaktik“ mag bewusst in der Einzahl gewählt sein. Denn es geht um ein Manöver als Sturmtaktik: das Beiliegen. Alle anderen Taktiken werden analysiert und keineswegs verteufelt. Aber wer sie im Detail studieren will, muss weitere Literatur heranziehen.

Wer erzählende Sachbücher dem klassischen Fachbuch vorzieht, wird am Handbuch Sturmtaktik Gefallen finden. Herausgeber Thomas Käsbohrer gelingt es in der Übersetzung, die fachliche Informationen den Lesern nahezubringen. Und, besser noch, die Leser als Beobachter zu den Pardeys an Bord zu versetzen.
Freunde knapp strukturierter Informationen werden die Abschnitte 2 bis 4 des Handbuchs bevorzugen. Hier gehen die sturmsegelnden Autoren auf die technischen Aspekte des Manövers Beiliegen, auf Para-Anchor und die Sturmbesegelung ein. Die erklärenden Bilder und Zeichnungen könnten umfangreicher sein. Aber am Ende ist alles „gesagt“.
Verständnis von Wetterkunde hilft
Etwas Verständnis von Wetterkunde sollte vor der Lektüre vorhanden sein. Dieses Wissen ist vermutlich auch vorhanden, wenn man sich mit dem Thema Sturmsegeln befasst. Denn in ihren Berichten gehen die Pardeys auf Wettersysteme und Meeresströmungen ein, ohne aber die Zusammenhänge detailliert zu erklären. Dies wird aber zum Teil im Anhang nachgeholt.
287 Seiten sind eine sehr umfangreiche Würdigung für ein einziges Manöver. Aber wer bereits erfahren hat, wie widerwillig das eigene Boot selbst bei gemäßigtem Wetter beiliegt, wird neugierig sein, die beschriebenen Stellschrauben für das eigene Boot spielerisch auszuprobieren. Und wenn Try-Segel und Para-Anchor – oder zumindest Treibanker – schon einmal vorhanden sind, die gleich mit. Ein Erkenntnisgewinn, der im „Ernstfall“ keineswegs schaden wird.

292 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Grafiken.
e-Book, Taschenbuch oder Hardcover
24,99 bis 39,95 Euro
Dieser Text erschien am 24. Oktober 2021 erstmals auf float. Aktualisiert am 31. Oktober 2023.