Die Ärztin Rike sticht in Gibraltar einhand in See, ihr Ziel ist Ascension Island im Südatlantik. Nach einem Sturm trifft sie mit ihrem Segelboot auf ein überladenes, havariertes Fischerboot mit Flüchtenden. Mehrere Dutzend Menschen drohen zu ertrinken. Und nun?
Die segelne Ärztin fordert per Funk Unterstützung an, aber ihre Hilfsgesuche bleiben zunächst unbeantwortet. Die Zeit zu handeln drängt. Rike wird aufgefordert, keine Hilfe zu leisten. Doch ein Junge springt vom Fischerboot ins Meer und schwimmt auf sie zu.
Was es heißt, einen Menschen allein aus Seenot zu retten, erfährt die Ärztin am eigenen Körper. Die Kamera ist hautnah dabei, minutenlang. Fast wirkt es wie ein Lehrstück für die Seenotrettung Schiffbrüchiger, wenn es sich bei der zu rettenden Person nicht um einen Geflüchteten handeln würde. Einer von vielen, die noch auf dem Schiff auf Rikes Hilfe warten.
Aber sie kann nicht alle aufnehmen, ihr Schiff ist zu klein und würde sinken. Sie würde sich in Gefahr begeben. Es würde niemandem helfen, nicht den Geflüchteten, nicht ihr selber. So ist die Ärztin zu einer grauenvollen Entscheidung gezwungen.
Styx, der Grenzfluss zur Unterwelt
Es ist wie eine Triage, ein Begriff aus der Pandemie. Für die Ärztin in der Seglerin die schlimmste Entscheidung, die moralisch dem Eid des Hippokrates unterliegt und helfen muss. Und als Seglerin gilt gleiches: Die Rettung Schiffbrüchiger ist eine Ehrenpflicht auf dem Meer.
Die Pflicht eines jeden Schiffsführers zur Seenotrettung lautet: Jeder Kapitän ist verpflichtet, allen Personen, selbst feindlichen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten, soweit er dazu ohne ernste Gefahr für sein Schiff und für dessen Besatzung und Reisende imstande ist.

Doch was, wenn es nicht einzelne, sondern viele sind? Rike befindet sich in einem moralischen Dilemma. Als junge Seglerin zeigt sich die Hauptdarstellerin Susanne Wolff ehrlich erschüttert gegenüber dieser unlösbaren Entscheidung, der immensen Verantwortung, der sie sich gegenübersieht. Die Szene, in der sie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen das Fischerboot hinter sich lässt, macht für die Zuschauenden erfahrbar, was für eine unmenschliche Last sich ihr in diesem Moment aufbürdet.
In ihrem Kölner Leben ist Rike Notärztin
In ihrem Kölner Leben ist Rike Notärztin und rettet im Team täglich Menschen. Hier auf dem Meer ist die versierte Einhandseglerin allein. Sie beherrscht ihre Yacht und hat alles bestens unter Kontrolle. Überzeugend zeigt der Film die Seglerin beim Navigieren und Segeln im Sturm, die Szenen sind glaubwürdig dargestellt und entsprechen den Sicherheitsvorkehrungen einer guten Seemannschaft. Wolff ist auch privat Seglerin.
So kann sich der Film auf das Wesentliche konzentrieren. Großteils auf dem Meer gedreht, was kameratechnisch schon herausfordernd genug ist, braucht er keine Ausschmückungen, die die Dramatik und Stärke nur verharmlosen würden.
Auf ihrer Elfmeteryacht steht nur Rike im Fokus, begleitet vom Rauschen der Wellen, dem Wind, der Segel. Sie selbst ist meist still. Jeder Handgriff erklärt präzise, wie man ein Segelboot steuert. Auch hier traut der Film den Zuschauenden zu, dass sie die Handlung an Bord interessiert.
Es ist nicht der erste Film, der zeigt, wie eine Frau, wie Frauen, souverän ihre Segelboote beherrschen. Maiden mit Tracy Edwards oder Die Farbe des Horizonts über Tami Oldham-Ashcroft zeigen, dass auch Frauen sehr gute Seglerinnen sind. Sie stehen für Vorbilder wie die berühmten Weltumseglerinnen Jeanne Socrates, Isabelle Autissier, Ellen MacArthur, Dee Caffari und die vielen anderen mutigen Frauen, die einhand und allein das Wagnis meisterten.
Die Küstenwache kommt nicht
Rike setzt einen Notruf ab, aber die Küstenwache kommt nicht. Die Ärztin bleibt in der Nähe des Fischtrawlers und wartet. Wer die Geschichte der Kapitänin Pia Klemp von der Sea-Watch 3 liest, kann sich ein Bild davon machen, wie die Rettungspolitik gegenüber Flüchtenden häufig gehandhabt wird. Die Kapitänin stößt auf dem Mittelmeer immer wieder an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und weiß dennoch, dass sie nicht aufhören kann. Ähnlich geht es Rike.

Der dehydrierte Junge kommt zu Kräften und fordert von der Seglerin, sie möge seine Schwester und die restlichen Menschen an Bord retten. Alle Mayday-Rufe der Seglerin werden abgeblockt. Der verzweifelte Junge beginnt, volle Wasserflaschen über Bord zu werfen, bei jeder Flasche nennt er einen Namen. Die Notärztin fasst einen radikalen Entschluss und erzwingt die Hilfe auf anderem Weg.
Regie: Wolfgang Fischer, Buch: W. Fischer, Ika Künzel. Mit Susanne Wolff und Gedion Oduor Wekesa. 94 Minuten
noch bis 24. August 2022 in der ARD-Mediathek zu sehen
Der Film zeigt still und damit umso eindrücklicher, was für eine Katastrophe sich seit Jahren auf dem Meer abspielt, als zum Finale die Notrufe mit der Anzahl der zu rettenden Menschen bei der Küstenwache eingehen. Die Schlussszene macht deutlich, wo Seenotrettung anfängt und wo sie in diesem Fall aufhört: bei der Farbe der Haut. Ein nachdenklich stimmender Film, der die Tragik der über das Meer flüchtenden Menschen erfasst.