In der Stadt Dudinka im Norden des westsibirischen Tieflands nimmt die packende Erzählung Weiße Finsternis von Florian Wacker um das Schicksal der beiden norwegischen Seeleute Paul Knutsen und Peter Tessem ihren Anfang. Von dort bricht 1921 eine Gruppe Männer auf, um die beiden verschollenen Freunde zu suchen. Roald Amundsen schickte sie von der „Maud“, nachdem das Schiff ein Jahr lang bei Kap Tscheljuskin festgelegen war, durch das Eis nach Diskon. Im Oktober 1919 brachen die beiden auf und waren seither spurlos verschwunden.
Wir waren eins, doch jetzt sind wir drei …
Seit Kindertagen sind sie Freunde in diesem kleinen norwegischen Dorf Tromsø, 344 km nördlich des Polarkreises: Peter Tessem, Sohn eines Zimmermannes, dessen Weg von Anfang an vorgezeichnet zu sein scheint, und Paul, der sein Glück wie Roald Amundsen im Eismeer finden will. Von Kinderbeinen an stehen die beiden in Wettbewerb miteinander, wer schwimmt weiter, wer läuft schneller.


Das verhängnisvolle Dreieck
Als Liv als Dritte im Bunde ins Spiel kommt, wird daraus eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Von Paul erwartet sie ein Kind, heiratet dann doch den verlässlichen, scheinbar stabileren Peter, muss aber auch ihn ziehen lassen und bleibt zurück, allein mit den beiden Kindern. Ihr Warten auf die Heimkehr der beiden Männer, ihr Kampf gegen Eis und Kälte, der harte Alltag in Einsamkeit – wird einfühlsam in den Kapiteln „Liv“ beschrieben, die in der Ich-Perspektive erzählt werden.
„Wenn ich Dein Bild betrachte, dann sehe ich Dich, und gleichzeitig sehe ich Euch beide, und Eure Gesichter legen sich übereinander.“ Letztendlich wird sie weggehen, diesen harten Ort verlassen, um weiter im Süden ein neues Leben ohne die beiden Männer zu beginnen. „Wir gehören nicht zu denen, die verzweifeln, hört ihr, wir werden leben.“

Florian Wacker nimmt die LeserInnen mit auf diese Reise. Er erzählt sie aus Peters Sicht (im Unterschied zu den Liv-Kapiteln aber in der neutralen Perspektive) und versucht nachzuvollziehen, was den beiden geschehen sein könnte. Der Titel „Weiße Finsternis“ macht deutlich: Nichts erscheint kälter, tödlicher als der Überlebenskampf im Eis, auf der Flucht vor Bären, eisigen Winden ausgesetzt. Und, im Falle von Peter, von heftigen Migräneanfällen geplagt.
Die Suche im Eis
Allmählich erschließt sich den LeserInnen die Vorgeschichte der beiden. Kapitel für Kapitel beginnt man zu verstehen, was sie veranlasst hat, Amundsen zu folgen: Nicht allein die Jagd nach Ruhm, nicht nur Abenteuerlust, sondern auch Verrat und Betrug werden als Motive erkennbar.
Zwei Jahre später bricht eine Suchexpedition auf, um nach Spuren der Freunde zu suchen. Diese Kapitel werden betitelt mit geographischen Längen- und Breitenangaben. Sie berichten aus der Sicht des bekannten Seemannes und Forschers Nikifor Begitschew, Kapitän Lars Jakobsen und des Übersetzers Alfred Karlsens.
Gemeinsam mit ortsansässigen Nganasanen begeben sie sich auf die Suche nach Peter Tessen und Paul Knutsen. Letztendlich haben sie Gewissheit: Sie finden Teile der Postsendung der Maud, die Taschenuhr Peters und Knochen, die sich später als Rentierknochen herausstellen sollen. Bis heute ist das Verschwinden der beiden Männer nicht restlos geklärt. Übrig bleibt ein steinernes Denkmal an Peter Tessem in Dikson.
Gefangen in der Dreiecksbeziehung
Geschickt verwebt der Autor den Bericht über die Suchexpedition mit dem historisch belegten Wettlauf der beiden norwegischen Freunde aus der Amundsen-Expedition. Sie sind einander ausgeliefert in Eis und Kälte, gefangen in einer verhängnisvollen Dreiecksbeziehung, ergänzt durch die Perspektive der zurückgelassenen Frau. Er wechselt gekonnt Zeitebenen und Erzählperspektiven, nimmt uns mit auf diese Reise ins ewige Eis.

Er erzählt von der Suche nach Sinn, von der unstillbaren Gier nach Ruhm und der Leidensfähigkeit einer Frau. Einer Frau, die nicht ganz so einer männlichen und unbarmherzigen Lebenswelt ausgeliefert ist, wie es anfangs scheint. Letztendlich verlässt sie Tromsø, will nicht mehr auf die Rückkehr ihres Mannes warten und beginnt ihr eigenes Leben zu leben. „Nein, ich werde nicht verschwinden, ich gehe nicht mit Dir!“
Über den Autor
Florian Wacker wurde 1980 in Stuttgart geboren, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisher erschien von ihm „Albuquerque“ (2014), „Dahlenberger“ (2015) und „Stromland“ (2018). „Weiße Finsternis“ wurde vorab mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.
