Wie nachhaltig ist eigentlich das Boot, das ich kaufen möchte? Es gibt kaum Händler oder Hersteller, die diese Frage beantworten können. Zu komplex ist das Thema. Ein elektrischer oder hybrider Antrieb ist nicht gleichbedeutend mit Nachhaltigkeit und auch die Verwendung recycelter Materialien bedeutet nicht automatisch eine geringere CO2-Bilanz. Man muss sehr tief graben, um die richtige Antwort zu finden, und bis vor kurzem dachten die Bootsbauer nicht einmal daran, sie zu suchen.
Der größte negative Faktor, der für die globale Erwärmung und den desaströsen Klimawandel verantwortlich ist, sind die Treibhausgase, vor allem Kohlendioxid (CO2). Die EU will mit ihrem Green Deal die Nettoemissionen von Treibhausgasen bis 2050 auf Null reduzieren.

Einen Schlüsselbereich für die Dekarbonisierung stellt der Verkehr, einschließlich der Freizeitschifffahrt, dar. Die Treibhausgasemissionen sollen in diesem Bereich bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 sinken. Um den CO2-Fußabdruck von Booten zu verringern, schaut man sich ihre Nutzungsphase an. Damit erfasst man aber nur die Spitze des Eisbergs. Genauso muss der CO2-Verbrauch bei der Herstellung berücksichtigt werden. Aber wie misst man den zuverlässig?
Auftritt MarineShift360
Zu den Gewinnern des prestigeträchtigen Dame Design Awards auf der Metstrade 2022 gehört MarineShift360. Die Software zur Lebenszyklusanalyse (Life Cycle Assessment/LCA) wurde speziell für die Bootsindustrie entwickelt. Sie ermöglicht es, die Umweltauswirkungen eines Schiffes vom Entwurf bis zur Verschrottung zu erfassen. Um den Grad der Nachhaltigkeit zu bestimmen, werden Rohstoffgewinnung, Herstellung, Vertrieb und Recycling berücksichtigt. LCA-Tools können auf dem Weg der Bootsindustrie von der linearen zur Kreislaufwirtschaft eine zentrale Rolle spielen.
MarineShift360 wurde vom US-amerikanischen Team von 11th Hour Racing und der Anthesis Group, einem der weltweit größten Beratungsunternehmen für Nachhaltigkeit, initiiert. Die Entwicklungszeit betrug vier Jahre, bevor die Software im April 2022 in Betrieb genommen wurde. Das Projekt arbeitet an einem branchenweit einheitlichen Datensatz, mit dem das Tool bestückt werden kann. So werden die Daten zwischen den einzelnen Akteuren vergleichbar – und der Handlungsbedarf sichtbar.
Öko nach Norm
„Traditionell war die Ökobilanzierung ein eher akademisches Thema und wurde nicht viel genutzt, schon gar nicht in der Bootsbaubranche“, erklärt Ollie Taylor, Direktor von MarineShift360. „Wir sehen es als eines der wichtigsten Instrumente für die industrielle Umstellung. Wir stehen vor einem massiven Wandel, und die Ökobilanz ist eines der grundlegenden Instrumente, die diese Umstellung erst ermöglichen. Es gibt viele Hersteller, die sich umweltfreundlich nennen, nur leider sind deren Aussagen nicht datenbasiert. Es wäre gut, Normen und eine allgemeingültige Struktur zu entwickeln.“ Auf die bestehenden Normen ISO 14040:2006 und ISO 14044:2006, die die Anforderungen an die Umweltverträglichkeit vorschreiben, ist MarineShift360 vollständig abgestimmt.

Um MarineShift360 zu füttern, sammeln die Bootshersteller die Informationen zu Rohstoffen, Transport, Nutzung und Entsorgung. Die Daten werden in ein Berechnungsmodell eingegeben, in dem ein Algorithmus das Äquivalentgewicht zum freigesetzten CO2 berechnet. Die Auswirkungen werden für mehrere Kategorien untersucht: Treibhauspotenzial, Energieverbrauch, Verknappung mineralischer Ressourcen, Wasserverbrauch, Übersättigung der Meere und Abfallfaktor (Ineffizienz bei der Verarbeitung von Material). Schließlich werden die Ergebnisse in einem konfigurierbaren Dashboard dargestellt. Das Wichtigste an diesem Tool ist, dass es die „Hotspots“ aufzeigt, die Bereiche, auf die man sich konzentrieren muss.
Jede einzelne Schraube
Im Bootsbau gibt es viele Produktionsschritte, und das Team von MarineShift360 musste für jeden einen spezifischen Datensatz erstellen. Sobald es eine Grundlinie gibt, kann man damit beginnen, die Variablen im Produktionssystem zu simulieren, um die Nachhaltigkeit des Produkts zu erhöhen. Die Flexibilität von MarineShift360 ermöglicht eine Analyse mit verschiedenen Genauigkeitsstufen, von groben Schätzungen bis hin zu jeder einzelnen Schraube und Mutter.