Stell‘ dir vor, du planst heute eine Weltumsegelung und machst dich aus Segelhandbüchern schlau, die 1910 oder sogar schon 1892 erschienen sind. Gänzlich unbrauchbar, sollte man meinen. Nicht ganz für den verantwortlichen Skipper auf der Peter von Danzig, Reinhard Laucht. Aus ihnen erfährt er „eine Fülle wertvoller Informationen“ über günstige Routen zu bestimmten Jahreszeiten, Wetterverhältnisse und praxisbezogene Kapitänsberichte. Alle erstellt in Zeiten, als die damaligen Segelschiffe auf den Routen unterwegs waren, die 70 Jahre später auch die Kieler Crew kennenlernen wird.
Natürlich stehen ihm aktualisierte Handbücher der Regionen von Küstenabschnitten zur Verfügung, die man ansteuern wird. Darüber hinaus Gezeitentafeln, Leuchtfeuerverzeichnisse und Nautical Almanac bzw. Nautische Jahrbücher – wichtig für die astronomische Navigation. Laucht besorgt sich aber auch das dreibändige amerikanische Tafelwerk H.O. 249, das schon damals gängigste Tafelwerk zur astronomischen Navigation per Hand. Mit ihr kann man „die zu erwartende Sternhöhe am Sextanten grob voreinstellen“.
Orientierung versprechen auch 250 Seekarten (nur die wenigsten werden genutzt), Großkreiskarten, Monatskarten, Steuerkompass, Sichtfunktpeilgerät, Funkgerät, Patentlog, Windmessanlage „für einfache Ansprüche“, elektrische Funkuhr, Stoppuhr. Ein Chronometer ist nicht an Bord. Er wurde nicht rechtzeitig geliefert. Navigiert wird bis Sydney nach Zeitzeichen aus dem Radio, „ab Sydney mit Hilfe einer einfachen Quarz-Küchenuhr – erstanden in einem Kieler Kaufhaus und mit lediglich +0,5 sec erstaunlich genau über einen Zeitraum von vier Monaten!“, so Laucht.

Was die Navigationsleistung angeht, brauchte die Peter-Crew sich vor niemandem zu verstecken. So z.B. als nach einem letzten astronomisch bestimmten Standort und wegen bedeckten Himmels anschließend über 30 Stunden Koppeln die Crew auf den Punkt das angepeilte Ziel in Neuseeland erreicht, wo Aki mit seinem gebrochenen Fuß abgesetzt werden muss.
Styropor gegen Frostbeulen
Die Crew ist keine vier Monate seit Kiel unterwegs, da fordern Salzwasser, Sonne, Wind und das tägliche Wechseln von Ölzeug, Seestiefeln und Handschuhen schon ihren Tribut. Sie sind „weitgehend zerschlissen … unzulänglich“. Die Romika-Seestiefel sind viel zu dünn. Versprach die Werbung damals nicht „Romika tragen, Wohlbehagen“?
Beim reißfesteren Ölzeug sind die Nahtstellen nicht dicht. Das bessere von Helly-Hansen ist zwar dicht, aber nicht reißfest. Immer haben die Jungs einen nassen Hintern und es ist unvorstellbar kalt. Jürgen Meyer hält fest: „Nie hätte ich gedacht, dass man so am Hintern frieren kann.“ Fünf Zentimeter dicke Sitzkissen aus Styropor, eingenäht in Segeltuch, bringen später „ungeahnte Verbesserung“. Auch das später in Australien bzw. Neuseeland gekaufte Ölzeug hält auf Dauer nicht das, was es verspricht, und wird mühsam und ohne großen Erfolg mit Gummiflicken repariert.
„Jeder Idiot kann Segel stehen lassen“, wird Schriftsteller und Kapitän Joseph Conrad zitiert, dessen Romane auf dem Meer und in exotischen Ländern („Herz der Finsternis“) spielen. Ein Idiot will die Crew nicht sein und reitet Stürme meist nur unter schwerer Fock (16 qm) und Trysegel (27 qm) ab. Auch wenn man geneigt ist, vorm Wind möglichst viel Segelfläche stehen zu lassen, um noch schneller zu sein …
Rekorde, auf die man gerne verzichtet
Am 07. November 1973 verlässt die Crew Kapstadt. Sie schafft es nicht, sich bei Windstärke 8 bis 9, in Böen 10, von der Agulhas-Bank (ein breiter, flacher Teil des südafrikanischen Festlandsockels) freizuhalten. Äußerst unangenehm auch der Algulhas-Strom, als der Wind gegen den Strom steht. Laucht: „Ich habe derart Crew und Material strapazierendes Segeln selbst auf der Peter von Danzig nie vorher erlebt.“

Später entwickelt sich das Wetter sehr typisch. Sturmtief auf Sturmtief folgt. Ein nicht angekündigtes kleines, kräftiges Sturmtief bringt Wellenhöhen zwischen 8 und 12 Metern. Es bläst durchgehend mit Windstärke 10 bis 11, in Böen bis zu 12. Bei wechselnden Windrichtungen entstehen unangenehme Kreuzseen. Nach Schätzungen von Jürgen Meyer mögen sie auch schon mal bis zu 14 Meter hoch gewesen sein. Später hören sie von Besatzungsmitgliedern der englischen Adventure, die Yacht der „seriösen Royal Navy und allesamt Berufsseeleute“, dass sie „im Ernst“ Wellen bis zu 30 Meter erlebt hätten.
Phasen der Flaute besonders in den Kalmen in Äquatornähe sind nervlich aber ähnlich belastend wie Sturmphasen, wenn dann das Schiff unkontrollierbar rollt und stampft.
Dämonische Wände
Als die Bewölkung aufreißt, wird das Schauspiel „von fürchterlicher Größe (…) noch phantastischer, gespenstischer, grauenhafter. Riesige weiße Kämme, ringsum die mit Urgewalt tobende See. In dieser Nacht haben wohl auch die mutigsten unter uns gezweifelt, ob Schiff und Besatzung diese Reise überstehen werden.“ Immerhin versucht Jan-Pieter Jamaer alle mit der angeblich geäußerten Meinung eines Howaldt-Ingenieurs (frühere Werft in Kiel) zu trösten: „Bei einer Rammung zwischen Peter von Danzig und einem Zerstörer wäre letzterer ohne Chance.“
„Und dann – in gewissen Abständen – kommt eine noch viel größere, noch höhere, noch dämonischere Wand an, kommt näher, und du glaubst, die überstehst du nicht. Und doch: welch ungeheurer Kitzel! – diese faszinierende Mischung aus Angst, Lust an der Gefahr und begeisterndem Triumph, wenn man angehoben wird, im Wellenkamm surft, in das Wellental hinabschießt und alles (noch einmal?) gutgegangen ist.“
Auf dem ungeplanten Kurs wegen des gebrochenen Fußes von Aki Müller-Deiles nach Bluff Harbour in Neuseeland erreichte die Peter von Danzig mit 230 Seemeilen ihr bestes Etmal.
Die Hosen voll
Warum bist du eigentlich hier? Was machst du hier eigentlich? Fragen, die aufkommen, wenn es ununterbrochen stürmt, die Tage grau, die Nächte finster sind. Mitten im „Frühsommer“ auf der Südhalbkugel. „Wie mag es erst im Winter sein?“, fragt sich Jürgen Meyer und gibt wie einige der Mannschaft zu, „dass sie ab und zu Angstgefühle haben“. Und das zu recht. Vor allem auch, als sie von den „Opfern“, die die Regatta auf den anderen Schiffen fordern, erfahren.
Volker Mackeprang hat unter Deck nie Angst gehabt. Oben hat er gern und lange gesteuert und sich wohl so abgelenkt. Lange hat er über die Frage nachgedacht, ob er Angst gehabt habe … und dann, ob er vielleicht Angst hätte haben sollen.

Max Heinemann gibt heute noch zu, dass er „die Hosen gestrichen voll“ hatte, als im Indischen Ozean ein Tief nach dem anderen durchzieht. Und – als Bootsmann – vorn unter Deck beim Schraubensortieren ist ihm dann eingefallen, „dass ich ja eigentlich gar nicht mitsegeln wollte“.
Besonders kontraproduktiv sind Gedanken an zu Hause, wo man geborgen, sicher und warm oder bei den „heißen Silvesterparties in Deutschland“ ist, während an Bord alles nass – „Tropfsteinhöhle Peter von Danzig“ – und kalt ist oder man ob der Anstrengung bei den nötigen Arbeiten schwitzt und deshalb alles auch am Körper feucht ist.
Wale und Wein
„Mancher hat auf seiner Reis‘ ausgestanden Müh und Schweiß und Not und Pein …“, heißt es in einem alten Volkslied. Das ist die Weltumrundung der Peter-Crew aber beileibe nicht nur gewesen. Dazu hat es neben den ganzen Anstrengungen auf dieser knapp achtmonatigen Abwesenheit von zu Hause zu viele schöne, beeindruckende Momente gegeben.
Beispielsweise die Sichtung des ersten Albatrosses. „Aus der Nähe betrachtet haben sie einen unendlich dämlichen Gesichtsausdruck“, findet Friedrich-Karl Heinemann. „Aber auch unterhaltsam, wie elegant sie fliegen und segeln.“ Dann Wale, die vorbeiziehen, oder Delfin-Schulen, die die Yawl begleiten. Aber auch auf dem Weg nach Rio, als sie von einer „Herde von vielleicht dreißig zwei mal sechs Meter langen Grindwalen verfolgt werden“.

Natürlich werden die Äquatortaufen ausgiebig gefeiert, dann die Geburtstage und andere Höhepunkte der Reise. Dabei wird auch schon mal ein hinter dem Besanmast festgelaschtes 30-Liter-Weinfass gelenzt.
Bier und Damen längsseits
Am 1. Februar 1974 umrundet die Peter von Danzig bei recht freundlichem Wetter in circa fünf Seemeilen Abstand Kap Hoorn. „Sir“ Thomas Weber erinnert sich: „Wir wurden mit Musik vom Bordlautsprecher eines in der Nähe stationierten englischen Eisforschungsschiffes, der Endurance, empfangen und ein kurzes Stück Wegs begleitet. Es hatte wohl den Auftrag, mit so vielen der teilnehmenden Regattayachten wie möglich kurz Sichtkontakt zu haben.“ Mit einer Bordparty und einem Dinner beginnt ab hier der letzte große Abschnitt der Reise.
Ein einziges Fest ist auch der Aufenthalt in Rio. Gerade rechtzeitig erreicht, um den Höhepunkt der Carneval-Saison mitzuerleben. „Aki kommt mit Motorboot, Bier und Damen längsseits“, verrät Jan-Pieter Jamaer in seinen Erinnerungen. Anschließend stürzt man sich ins Getümmel, tanzt auf allen Straßen, allen Plätzen. Max erhält hier seinen Beinamen „Sambamaus“.
Zwei Monate später müssen die Azoren mit Ziel Santa Cruz angelaufen werden, da die Vorräte und das Wasser knapp werden. Es wird gebunkert und ein wenig das Hinterland erkundet. Rüdiger Steinbeck, neu an Bord auf dem letzten Abschnitt, hat einen Kassettenrekorder mitgebracht und legt … Samba auf. „Wir holen uns aus Pantrybeständen Töpfe, Deckel, Löffel und Siebe hervor und erinnern uns mit unserem ‚Orchester‘ binnen kurzem wieder an Rio.“
Irrlichternde Nächte
Friedrich-Karl Heinemann erinnert sich nach flauen Tagen, als es weiter geht in „rauschender Fahrt in wunderbarer Euphorie“ bei klarsichtiger Nacht und geisterhafter Helle des Mondlichts, „die auf dem ruhigen schwarzen Meer eine gleißende Straße erzeugt“.
Sein Bruder Max hält in seinem Tagebuch fest: „Die Peter von Danzig erreicht Höchstgeschwindigkeit. (…) Es ist prächtiges Segeln. Nachts herrscht bei stockfinsterem Himmel ein außerordentlich starkes Meeresleuchten. (…) Einige Kabellängen weit ist das Aufleuchten der Wellenkämme wie das Aufblitzen von Neonlampen zu sehen.“
Auch ein Elmsfeuer überrascht den Wachhabenden in einer Nacht. Es ist diese seltene Lichterscheinung, die durch elektrische Entladungen bei Gewittern hervorgerufen wird und in einer Nacht mit seinem typischen Sirrgeräusch im Rigg nach oben steigt.
Sir Thomas hat sich sehr mit der astronomischen Navigation beschäftigt und schwärmt noch heute im Gegensatz zum Nachthimmel auf der Südhalbkugel von dem unsrigen hier im Norden. „Ein unbeschreibliches Erlebnis!“ Das sogenannte „Kreuz des Südens“ findet er gar nicht so spektakulär im Vergleich zu den großen, leuchtenden Sternenbildern – Orion, Adler, Schwan, Wega – hier oben. „Das Erleben von Geborgenheit, als sich bei sternenklarem nächtlichem Himmel auf der Rückreise die vertrauten Sternbilder und Gestirne der Nordhalbkugel wieder zeigten, war fast berauschend.“
Best Loser
Nach 28.500 Seemeilen von Portsmouth bis Portsmouth in 203 Tagen und einer Gesamtstrecke von knapp 30.000 Seemeilen erreicht die Peter von Danzig nach fast acht Monaten wieder ihren Heimathafen Kiel. Die Reise um die Welt endet, wie sie begonnen hat: per „Anhalter“ durch den Kanal. Und wieder sind Hunderte gekommen, diesmal zur Begrüßung. Auch Presse und Fernsehen geben sich die Ehre. Alle Ziele sind erreicht: ordnungsgemäß durchhalten, heil ankommen, „wenn schon keine Chance auf eine Platzierung gegeben war“, so später das Fazit des Skippers Reinhard Laucht.

Geehrt wird die Peter von Danzig und ihre Crew bei der späteren Einladung zur Siegerehrung in London im Beisein von Prinz Philip trotzdem: Die Peter von Danzig erhielt den Preis „Best Loser“. Sicher ein Novum beim Regattasegeln, befanden über die Vergabe dieses Preises doch die Skipper der beteiligten Yachten.
Als erster Yacht überhaupt wird nach dem Whitbread Race in Deutschland der Peter von Danzig zum dritten Mal der Schlimbach-Erinnerungs-Preis verliehen. Er galt als höchste deutsche Auszeichnung im Hochseesegeln. Die Trophäe ist der sogenannte Kronenkompass aus dem Jahre 1937.
Nach 50 Jahren kommt es in Kiel beim ASV am 23. September 2023 zu einem Wiedersehen der alten Peter von Danzig, der heutigen Peter von Seestermühe, und der aktuellen Vereinsyacht unter dem Namen. Dazu gibt es eine Feier, zu der sicher auch die noch lebenden Helden von damals anwesend sein werden.