Am langen Schwimmponton warten rund 20 Boote auf das Startsignal. Auch der Renn-Kat von Mike Szymura. Trotz hunderter Menschen an der Küstenlinie entlang der Rennstrecke ist es überraschend ruhig in der Startzone. TV-Kameras? Bereit. Satellitensignal? Geprüft. Rettungsteams? Auf den Positionen. Startsignal? Vorbereitet. Bootscockpits? Geschlossen. Es sind noch 30 Sekunden bis zum Start des Grand Prix von China in Liuzhou, dem vierten Rennen der diesjährigen Formula 1 H2O-Rennbootserie.

In weniger als vier Sekunden auf 100 km/h
Die erste Reihe Rotlichter flammt auf, jetzt die zweite und dritte. Lampen aus. Zündung! Im Bruchteil einer Sekunde werden 10.000 PS entfesselt, mit denen die 20 Formel-1-Boote in weniger als vier Sekunden auf 100 km/h beschleunigen. Am ersten Wendepunkt sind die meisten von ihnen nahe 200 km/h, und die verlangsamen nicht stark in den Kehren. Das spezielle Design der F1H2O-Katamarane, das Talent und Erfahrung der Fahrer erlauben es, unglaubliche scharfe Kurven zu fahren, ohne allzu viel bei Motordrehzahl und Geschwindigkeit zu verlieren.
Die renommierteste Motorboot-Rennserie der Welt – mit fast 300 Grand-Prix-Rennen in 32 Ländern seit den 1980er-Jahren – wird auf modernsten Renn-Katamaranen von den erfahrensten Boots-Rennfahrern gefahren. Einer von ihnen ist Mike Szymura aus Berlin.
Übung macht den Dreifach-Meister
Mike hat seine Karriere als Rennfahrer 2008 begonnen. In der T550-Klasse des Deutschen Motoryachtverbands (DMYV) belegte der damals 16-Jährige als Rookie den fünften Platz. Im Jahr darauf gewann er die Meisterschaft in dieser Klasse und wechselte in die Klasse F4-S mit geschlossenem Cockpit – der Beginn seines Wegs zur Formel 1 auf dem Wasser. Denn die F4-S-Serie ist eine Support-Klasse für junge Fahrer, die davon träumen, in der internationalen Spitzenliga zu starten.
Die meiste Zeit fuhr Mikes Boot im Container zum nächsten Rennziel
Dreimal in Folge hat Szymura im F4-S den Meistertitel 2013, 2014 und 2015 geholt, wobei er für das portugiesische Team F1 Atlantic Team startete. Es war ein schwieriger Wettbewerb, da er nicht sein eigenes Boot fuhr, sondern einen Kat seines Teams, der die meiste Zeit im Container zu den nächsten Rennzielen reist. Trainiert werden konnte nur am Tag der Qualifikationsläufe und während der Rennen. Auch das Boot war nicht das neueste. Doch Szymura konnte zeigen, dass er ein talentierter und erfahrener junger Pilot ist – und 2016 erstmals in der Formel 1 für das erst 2015 gegründete Emirates Racing Team starten.
Zur Sicherheit in die letzte Reihe
Wie alle Neulinge muss der Ex-F4-S-Fahrer jedes Rennen aus der letzten Reihe starten, mit fünf Sekunden Verzögerung – eine Sicherheitsvorschrift für neue F1H2O-Fahrer. Trotzdem und trotz vieler technischer Probleme mit der Servolenkung und dem Bordfunk gelang es dem heute 24-Jährigen, seine erste Saison mit vier Punkten zu beenden, vor allem aber ohne Crash.
Es klingt nicht sehr eindrucksvoll. Aber viele, weit erfahrenere Piloten hatten nicht das Glück, auch nur vier Punkte zu bekommen, die Mike Szymura in seinem ersten Jahr mit 400-PS-Zweitakter am Heck einfuhr. Da musste im Folgejahr doch noch mehr möglich sein.

Pleite in Portimão, frühes Ende in Évian
In diesem Jahr begann die Rennsaison am 23. April mit dem Grand Prix von Portugal im wunderschönen Portimão an der Algarve. Sehr starker Wind mit fast 90 km/h zwang die Organisatoren, alle Termine des dreitägigen Grand Prix auf den Sonntag zu legen. Damit waren alle Trainingseinheiten abgeblasen. Mike Szymura, der von Position 10 startete, hatte wieder Kummer mit dem Funk. Er konnte seinen „Radioman“ nicht hören, mit dem die Piloten von Land aus navigiert werden und alle Ansagen der Rennleitung erhalten. Wenig später war er disqualifiziert. Nicht der beste Anfang für 2017.
Das schlechte Wetter reist mit, doch immerhin der Funk funktioniert
Von Portugal reiste die Rennbootflotte weiter nach Évian-les-Bain in Frankreich, und das schlechte Wetter reiste mit: mit starkem Regen, Wind und hohen Wellen. Immerhin funktionierte der Bordfunk jetzt. Stattdessen hatte Mikes Boot ein Problem mit der Kraftstoffversorgung, was den Piloten dazu zwang, in Runde 30 aufzugeben. Mit defektem Motor wurde der junge Berliner zurück zum Crew-Quartier geschleppt. Bilanz: zwei Rennen, keine Punkte.
Mike Szymuras Reiseplan: Go east!
Von Évian wurden alle F1H2O-Container per Bahn auf den langen Weg in den Fernen Osten geschickt – nach Harbin in China. Während des ersten Trainingslaufs belegte Mike Platz 14. Lauf 2 machte sein Ergebnis um eine Position besser, und bei der dritten Trainingseinheit reichte es für Rang 9. Das Rennen selbst war für den deutschen Fahrer mit Platz 13 unspektakulär – nur noch zwei Plätze von den Punkterängen entfernt. Die Positive von Harbin: Mike Szymura kam hier endlich über die Ziellinie.
Vom Nordosten Chinas reisten die Boote über 3.000 km hinunter nach Liuzhou, einer schönen alten Stadt mit mehr als 2.100 Jahren Geschichte im Südosten des Landes. Hier, auf dem Liu River, fuhr Mike Szymura am 1. Oktober beim zweiten Grand Prix von China das für ihn entscheidende Rennen der Saison.
Was tun, wenn der Motor versagt?
Ich besuche Mike vor dem Rennen in seinem Teamzelt. Er erzählte mir, dass der Motor, mit dem er sein Boot in Harbin fuhr, nicht mehr lief – und er nur einen Motor hat. Keine Reserve. Das klingt nicht wie das Ende der Welt, denn normalerweise nutzen Bootsfahrer einen Motor jahrelang ohne Ausfälle. Doch die F1H2O-Rennmotoren sind ein wenig anders: Die hochgetunten Zweitakter von Mercury Racing mit 2,5 Litern Hubraum und 400 PS laufen mit bis zu 10.500 U/min.
Um die Ziellinie beim Rennen sicher zu überqueren, durfte er im Training nicht zu sehr drücken.
Normalerweise braucht jeder Pilot mindestens zwei dieser Motoren für einen Grand Prix, um bei (durchaus üblichen) Motorschäden oder Unfällen einen Ersatz zu haben. Für Liuzhou hatte Mike eine letzte Arbeitsmaschine. Um sicher zu sein, dass er in der Lage sein würde, die Ziellinie am Renn-Sonntag zu überqueren, durfte er im Training bei den Motordrehzahlen nicht zu sehr drücken.
Mike beendete die Qualifikationsrunde in Liuzhou auf Platz 10 und war damit zum zweiten Mal in seiner Karriere in den Top 12 der Startformation, exakt ein Jahr nach und am selben Ort wie das erste Mal. 2016 qualifizierte er sich auf Platz 11 (0:48.53) und beendete das Rennen auf Platz 9 mit zwei Punkten.


Schrauben und Bangen
Am Sonntagnachmittag saß Mike Szymura in seinem Cockpit auf Position 9 des Startpontons, bei rund 40 Grad Wärme und hoher Luftfeuchtigkeit, vorschriftsmäßig in voller Rennmontur mit kompletter Sicherheitsausrüstung. Sein Mechanikerteam, darunter sein Vater Piotr, hatte an den Tagen zuvor hart daran gearbeitet, um sicher zu gehen, dass der letzte Motor zumindest dieses Rennen ohne böse Überraschungen überstehen würde. Wie erfolgreich ihre Anstrengungen waren, würden sie in 48 Runden wissen.
Rund 40 Minuten später, nach 47 Runden auf dem etwas mehr als zwei Kilometer langen Parcours, überquerte Mike Szymura die Ziellinie mit dem besten Ergebnis in seiner F1H2O-Karriere. Er beendete das Rennen auf Platz 7 mit vier Punkten.

Zwei Rennen entscheiden
Die ersten vier Punkte der Saison 2017 haben den jungen Berliner auf Platz 14 im Gesamtklassement gebracht. Vor den letzten Rennen der Saison ist für Mike Szymura an einen Podiumsplatz nicht zu denken. Punktemäßig liegt er aber besser als viele bekannte Formel-1-Fahrer wie seine Teamkollegin Marit Stromoy, der Endurance-Weltmeister Peter Morin und Rennbootkonstrukteur Francesco Cantando.
Noch zwei Rennen stehen bevor. Aus China werden die Boote in die Vereinigten Arabischen Emirate gebracht, wo am 8. Dezember der Grand Prix von Abu Dhabi stattfindet. Von dort reisen die Teams direkt weiter ins Emirat Sharjah, wo die Saison am 15. Dezember endet. Zwei Gelegenheiten für Mike Szymura, aus vier Punkten mehr zu machen – so wie zuvor in der F4-S-Serie.
Website der F1-Rennserie: f1h2o.com
Mike Szymuras Website: mikeszymura.de