So schnell kann es gehen: eben noch weit vor der Meute hart am Wind, dann abgeschlagen als Beilieger und von Sorgen geplagt. Alex Thomson, der über Tage das Regattafeld der Vendée Globe 2020 anführte und sich immer weiter absetzte von der Konkurrenz, musste eine Zwangspause einlegen, sein Boot reparieren – und die Führung abgeben.
An manchen Seglerstammtischen heißt es bereits schadenfroh: „So was kommt von so was“ – darauf gemünzt, dass Thomsons Höllenritt mit dramatischer Materialermüdung erkauft werden musste. Aber für solche Urteile ist es viel zu früh. „Ich werde alles tun, was geht, um im Rennen zu bleiben“, sagt Alex. Dramatische Töne – was ist da passiert?

Was wir bisher wissen: Bereits am Samstagabend unternahm der britische Favorit eine Routinekontrolle. Die offizielle Beschreibung seiner Entdeckung: „strukturelle Schäden an einem Längsträger im Bugbereich“. Dass es sich nicht um eine Lappalie handelt, lässt sich indirekt aus den sofortigen Maßnahmen erkennen. Thomson drosselte das Tempo und drehte bei, dann machte er sich an die Arbeit. Sein letzter offizieller Kommentar: „Es versetzte mir anfangs einen kleinen Schock, aber inzwischen denke ich, es hätte schlimmer kommen können. Alles reparierbar.“ Nur einen Tag hat er sich dafür gesetzt.
Die Reparatur mit Teamunterstützung hat dann 48 Stunden gedauert. Aber am Montag konnte Alex Thomson aufatmen: „Ich habe wieder Segel gesetzt. Ich bin wieder im Rennen!“ Er ist zwar auf den fünften Platz zurückgefallen. Es liegen aber auch noch 19.500 Seemeilen vor den Regattateilnehmern. Glück auf!
Die Yacht, Alex‘ perfektes Werkzeug
Das ist Alex Thomson: einer, der anpackt. Der Signale zu deuten weiß und der nicht zögert, sofort die richtigen Schritte einzuleiten, wenn ein ganz neues Manöver erforderlich ist. Mit 46 Jahren geht er bereits auf die fünfte Vendée Globe, und nach den ersten beiden Versuchen in den Jahren 2004 und 2008 hat sich sein Erfolg gefestigt. 2012 wurde er Dritter, 2016 Zweiter, und er hofft, dass er in diesem Jahr den ersten Platz belegen wird.

Der Brite hat einen großen Leistungshunger und will das Ergebnis liefern, für das er so hart gearbeitet hat. Er hatte das große Glück, sein Sponsoring mit Hugo Boss über 17 Jahre lang aufrechtzuerhalten. Das ist eine der längsten Sponsoren-Beziehungen in der Sportgeschichte. So etwas bringt viel Sicherheit für den Sportler. Daher konnte Alex in aller Ruhe Erfahrung, Auszeichnungen und Erfolge sammeln. Ein weiterer Meilenstein: sein Boot, das exakt als perfektes Werkzeug für Alex konstruiert ist. Es ist ihm gewissermaßen auf den Leib geschneidert.
Die neue Yacht „Hugo Boss“, die von der VPLP zusammen mit Peter Hobson entworfen wurde, hat viel von Alex gelernt. Der Waliser weiß, wie er sein Boot segelt und was er von seinem Boot will. Es wurde in Großbritannien in der Werft von Jason Carrington gebaut und rechtzeitig für die Transatlantikregatta Jacques Vabres im Oktober 2019 zu Wasser gelassen. Leider kollidierte das Boot nach nur wenigen Tagen mit einem unbekannten Objekt. So mussten Alex und sein Co-Skipper Neal McDonald den Kiel abwerfen, um das Boot zu retten. An ein Weitersegeln war nicht zu denken; stattdessen humpelten sie mit der Handicap-Yacht in Richtung der Kanarischen Inseln. Ein Werftaufenthalt in der Heimat brachte eine strukturelle Verstärkung.
Keine guten Trainingsbedingungen
Das Jahr 2020 bedeutete, dass die Fahrzeit aufgrund der globalen Pandemie eingeschränkt war. Der Stapellauf erst im August ließ nur sehr wenig Zeit, um das Boot vor dem Start der Vendée Globe zu testen und genauestens zu überprüfen. Es entstand der Eindruck, dass sich Alex ohne Regatten und ohne genügend Zeit für das Segeln des Bootes möglicherweise nicht ausreichend auf das Rennen vorbereitet fühlt.
Doch diese Verwicklungen hatten noch einen Nebeneffekt: Für seine Rivalen ist Alex jetzt der große Unbekannte! Niemand hatte sein Boot segeln sehen. Niemand wusste wirklich, wie Alex segelt, an welchen Strippen er zieht, welches Tempo er vorlegt. Und niemand hatte auch nur eine Sekunde neben ihm gesegelt. Ohne jeden Vergleich wusste also niemand wirklich, wie sich die Hugo Boss verhalten würde. Wir konnten sehen, dass das Design die Grenzen überschritten hatte, und es sah schnell aus, und wir wissen, dass Alex schnell segelt. Die Frage, die in der Luft hing, war: Könnte dies sein Jahr sein?

Er hat dieses Funkeln in den Augen
Dieser Alex Thomson war der entspannteste und selbstbewussteste, den wir je am Dock in Les Sables D’Olonne abfahren sahen. Er lächelte, verströmte Zuversicht, und er sah fit, gesund und bereit für das Rennen aus. Er hatte dieses Funkeln in den Augen, als er erwähnte: Er wolle unbedingt sehen, wie das Boot gegen der Konkurrenz abschneidet. Dank seiner Partnerschaft mit Nokia Bell Technologies kommuniziert er täglich ehrlich und offen über hochmoderne Kameras und beste Tonqualität, und wir begleiten einen glücklichen, entspannten Segler, der sich in seinem Boot wohl fühlt.

Es unterscheidet sich im Design von den anderen Booten und dem traditionelleren Look, den wir gewohnt sind. Der Arbeitsbereich des Skippers ist zu allen Seiten völlig abgeschlossen. So kann er sich sicher und geborgen fühlen. Mit seinem ferngesteuerten Kamerasystem und den Glasfasersensoren, die 350 Datenpunkte mit bis zu 100 Hz übertragen, hat er sich gut an das „öffentliche Segeln“ der modernen Vendée Globe angepasst.

Gewehrschuss weckt den Skipper
Er hat Zeiträume programmiert, innerhalb derer er wach bleibt und das Steuer führt. Bei ihrem Erreichen wird Alarm ausgelöst. Als jemand, die schon einmal mit Alex gesegelt ist und ihn für seine Wache aufwecken musste, weiß ich: Diese Alarme müssen superlaut sein, da es schwierig ist, ihn aufzuwecken. Tatsächlich liegen die Warntöne bei etwa 138 Dezibel, relativ exakt an der menschlichen Schmerzschwelle – kurz darüber ist bereits die Schallemission eines Gewehrschusses aus nächster Nähe einzuordnen. Das wird ihn sicher aufwecken.
Alex Thomson war der jüngste Skipper, der 1999 ein Round the World Yacht Race gewann, als er das Ariel-Team zum Sieg im Clipper Race führte. Sir Robin Knox-Johnston ist für Alex ein Mentor geblieben, ebenso wie Sir Keith Mills, der bei diesem Rennen zur Crew von Alex gehörte und seitdem ein Geschäftspartner in Alex‘ Karriere geblieben ist.

Alex‘ Karrierestart vor 20 Jahren
Seine Karriere im engeren Sinn startete er vor 20 Jahren. Im Anschluss an dieses Rennen sicherte sich Alex im Jahr 2000 ein Open-50-Rennen bei der OSTAR (Original Single-Handed Trans-Atlantic Race). Er segelte in der Soloregatta von Plymouth nach Newport in seinem Boot namens „Sail that Dream“, wo er als bester in seiner Boots-Klasse auf dem Podium landete. Von dort aus begann er seine Odyssee zum Sieg bei der Vendée Globe mit seinem Sponsor Hugo Boss.
Auf seiner Reise dorthin hat Alex sein Können immer wieder unter Beweis gestellt. Er hält immer noch den 24-Stunden-Solo-Rekord für ein Einrumpfboot über 537 Meilen. Ich bin sicher, dass dieser Rekord bei der aktuellen Vendée Globe gebrochen werden wird. Wenn auch nicht unbedingt von Alex.
In meiner Segelkarriere habe ich zunächst für den britischen Segler Mike Golding gearbeitet. Nach einigen Jahren ging ich zu Alex Thomson. Er leitete eine Charterflotte von Farr 65′ Cruiser-Racer-Yachten, die wir im Sommer in Großbritannien und im Winter in der Karibik gechartert hatten. Ich habe für Alex Thomson gearbeitet, um mehr Erfahrung in der Regatta auf großen Booten sammeln zu können. Alex ermutigte uns, uns selbst und das Können der Boote und der Gäste zu fördern, und er trat oft bei Regatten gegen uns an.

Zusammentreffen im Protestraum
Ich erinnere mich an eine Heineken-Regatta in St. Maarten. Nach Regelverletzung durch eine andere Crew wollte ich Protest erheben. Beim Komitee begegnete ich Alex. Ich hatte noch nie ein „Protestzimmer“ betreten und vor einer Jury gesprochen. Alex ermutigte mich, es durchzuziehen. Das war gut, denn ich habe den Protest gewonnen.
In einer anderen Saison hatte ich bei der Antigua Race Week einen Unfall und verlor während des Rennens einen Teil meines Mittelfingers durch den Großschotblock. Als ich wieder in Großbritannien war und für meine Fitness kämpfte, war es Alex, der mir vorschlug, mit ihm auf einem Regatta-Charter zu segeln. Mein Selbstvertrauen hatte durch den Unfall etwas gelitten. Er sorgte dafür, dass ich mich von dieser Verletzung erholte und nicht die Nerven verlor. Ich bin dankbar für die Aufmerksamkeit, die er mir entgegengebracht hat.
Wie ein Dirigent sein Orchester
Ich erinnere mich auch gut daran, wie Alex eine Gruppe von Amateur-Seglern koordinierte und das Beste aus ihnen herausholte, so dass sie mit einem 65-Fuß-Boot bei voller Geschwindigkeit ein Rennen bestritten. Alex fuhr nicht, er stand buchstäblich zwischen den Rädern und leitete die Mannschaft an wie ein Dirigent sein Orchester. Es war beeindruckend. Diese vollendete Form der Kontrolle über ein Boot, das bei voller Geschwindigkeit fährt, habe ich erst später wieder gesehen. Das war jedoch bei einer professionellen Crew mit dem Skipper Mike Sanderson aus Neuseeland beim Hafenrennen in Portsmouth anlässlich des Ocean Race 2005/06.

Die ruhige, planvolle Seite von ihm
In früheren Ausgaben der Vendée Globe hat Alex Thomson einfach alles in das Rennen geworfen, ungeachtet von Sieg oder Niederlage. Diesmal sehen wir einen reiferen Alex, der nichts mehr beweisen muss. Seine Art zu kommunizieren zeigt seine ruhige, planvolle Seite. Damit bewältigt er den Stress und die strapaziösen Bedingungen mit Leichtigkeit.
Als die Flotte den Tropensturm Theta passierte, war Alex in seiner Streckenführung sehr aggressiv und drängte darauf, dass das Zentrum die kürzeste Route durch den Sturm nimmt. Viele andere schlugen einen größeren Bogen, um den schlimmsten Seegang zu vermeiden. Alex‘ Route verriet mir, wie felsenfest er sich auf sein Boot verlässt.
Er wusste, dass es den rauen Seegang und die Böen von 60 Knoten für die kurze Zeit aushalten würde.

Die Helikopter-Perspektive üben
Wie viele Solosegler hat Alex eng mit einem Psychologen zusammengearbeitet. Ken Way beherrscht die „Helikopter-Perspektive“. Der Psychologe aus Nottingham hat Alex gelehrt, von oben auf seine Situation herabzublicken. Das verhindert, dass er sich zu sehr in einen emotionalen Zustand versetzt. Hat er sich beim Eintreten einer Krise erfolgreich in diese Perspektive gehievt, kann Alex eine Reihe von Fragen durchlaufen, die er an sich stellt:
● Was muss der Kapitän des Bootes denken?
● Was muss er tun?
● Was muss er erkennen?
● Was muss er verstehen?
● Was muss er auf dem Schiff fühlen?
Das gibt ihm Zeit und Raum, eine normale Denkroutine zu durchlaufen, und erlaubt ihm, methodisch und logisch zu handeln. Auf diese Weise wird vermieden, dass die Emotionen eskalieren und außer Kontrolle geraten.

Ich habe das Gefühl, dass wir seine Fortschritte bei dieser Vendée Globe live erleben. Könnte 2021 das Jahr sein, in dem Alex Thomson gewinnt? Es hat noch nie einen Sieger außerhalb Frankreichs gegeben. Es würde den Sport zum Besseren verändern. Er würde dadurch internationaler und uns allen zeigen, dass man mit Beharrlichkeit und Wachstum etwas erreichen kann. Ich drücke die Daumen.