Die Arbeit an der Tally Ho ruht seit vier Wochen. Leo hat seine Kollegen Richard und Rowan, Pete und Pat in den Urlaub geschickt. Er selbst hat sich eine Pause gegönnt und Freunde und Familie in England besucht. Das war nach zwei Jahren fast ununterbrochener Arbeit am Rumpf des Holzschiffes mal wieder dringend nötig. Zurück in Port Townsend besucht ihn sein Freund Jack Gifford, ein Yacht-Designer. Mit ihm berechnet er die Stabilität der Tally Ho.
Die Kutteryacht von 1909, gezeichnet von Albert Strange und 1927 Gewinnerin des legendären Fastnet Race, beschäftigt den englischen Segler und Bootsbauer mittlerweile im sechsten Jahr. Angefangen hatte das Projekt als eine Restaurierung zum Erhalt des Schiffes. Unterstützt hatte ihn die Albert Strange Association, die diese wichtige Zeitzeugin klassisch süd-englischen Yachtbaus des jungen 20. Jahrhunderts nicht der Kettensäge anheim geben wollte.
Leo ist der richtige Mann für dieses Projekt. Mit Hilfe vieler Freunde und freiwilliger Helfer, einer Portion Mut, unerschütterlichem Optimismus, Talent, Wissen und Tatkraft hat er das Schiff komplett auseinandergenommen und Stück für Stück neu aufgebaut. Ein gutes Team und regelmäßig veröffentlichte Videos, die inzwischen von einer weltweiten Gemeinde angeschaut werden, helfen ihm dabei.

Tally Ho ist mittlerweile Kult in der Szene der Klassiker-Enthusiasten. Rumpf, Ballastkiel, Deck und Teile des Innenausbaus sind fertig. Nun geht es an einen äußerst wichtigen Punkt: die Stabilitätsberechnung.
Rank oder Steif? Masse und Auftrieb
Das ist wichtig, bevor das Rigg, (die Spars) also Mast, Stenge, Baum und Gaffel gebaut werden. Von deren Gewicht hängt die Höhe des vertikalen Gewichts-(Masse-)schwerpunktes (vertical point of gravity) ab. Dadurch wird das Segelverhalten einer Yacht bestimmt. Liegt er zu hoch, nennt man das Schiff rank (tender). Es krängt zu schnell weg und die Segel können nicht den optimalen Wirkungsgrad entfalten und die Windenergie in Fahrt umsetzen. Im ungünstigsten Fall kann sogar ein Kielboot kentern oder so weit auf die Seite gedrückt werden, dass es vollläuft und sinkt.
Liegt der vertikale Schwerpunkt wiederrum zu tief, nennt man die Yacht steif. Sie kann nicht richtig krängen, die Segel können gerade bei leichtem Wind nicht den optimalen Anstellwinkel zum Wind erreichen und bei mehr Wind und Welle macht es kurze ruckartige Bewegungen. Dafür muss man nicht so früh reffen.
Dem Krängungsverhalten wirkt der aufrichtende Moment (righting arm) entgegen. Er ergibt sich aus dem Verhältnis von Auftriebsschwerpunkt (center of buoyancy) zu Gewichtsschwerpunkt. Je mehr der Hohlkörper Bootsrumpf krängt, um so mehr wandert er nach außen, Da durch den schweren Ballastkiel der Gewichtsschwerpunkt recht tief liegt, tendiert das Boot umso mehr dazu sich wieder aufzurichten, je weiter es krängt.
Erfahrung versus Logarithmen
Wichtig für das Segelverhalten ist auch die horizontale Lage des Gewichtsschwerpunkts. Sie bestimmt, wie gut das Schiff auf der Konstruktionswasserlinie liegt. Sitzt der Schwerpunkt zu weit vorne, taucht der Bug ein und unterschneidet in den Wellen, zu weit achtern wird das Boot hecklastig. Beides sieht schlecht aus und schmälert den Segelspaß.
Leo ist Praktiker und ist etwas unsicher, ob seine vereinfachten Erklärungen auch der kritischen Betrachtung eines Profis standhalten würden. Er versteht aber auch dieses Fach sehr gut und ist in der Lage, uns Halbwissenden anhand seiner kleinen Zeichnungen die Beziehungen der Schwerpunkte zueinander sehr gut zu erklären.


Aber stimmt die Wasserlinie auch? Hierfür hat er akribische Listen aller verbauten Teile erstellt. Angefangen vom Bleiballastkiel über die Bronzeknie und -bodenwrangen bis zu den Gelbzeder-Planken des Decks. Jedes Bauteil hat sein eigenes Gewicht und seine Lage im Bootskörper.
Jedes Bauteil zählt
Es sind inzwischen acht verschiedene Holzarten verbaut, alle mit unterschiedlichem spezifischem Gewicht. So sitzen Jack und Leo in seinem Büro unter dem Dach der kleinen Werkstatt und fachsimpeln über die Stabilität der Tally Ho. Fachsimpeln? Naja, Jack der Theoretiker erklärt und Leo gibt immer mal wieder ein kleines „Yes“ mit ein, dabei sehen die beiden wirklich klischeehaft aus wie Dozent und Praktiker. Sie stellen fest, dass es eine gute Entscheidung war, viel von dem Innenballast in den Ballastkiel zu gießen, damit der Schwerpunkt tiefer kommt.
Nun haben sie mehr Spielraum für den Innenausbau und das Rigg. Mit hohlen Sika-Spruce-Spieren wird es ein gutes Stück leichter als mit den (wahrscheinlich) massiven Oregon-Pine-Spieren des Originals. Leo wird darauf zu achten wissen, dass der Schwerpunkt nicht zu tief kommt und Tally Ho immer noch gut am Wind liegt. Den Längstrimm können sie jederzeit mit beweglichem Ballast bzw. der Anordnung schwerer Ausrüstung korrigieren (wo soll die Waschmaschine stehen?). Wie tief Tally Ho eintaucht, hängt dann letztendlich davon ab, wieviel Material, Proviant und Mannschaft mit an Bord kommt.

Man kann viel berechnen, aber gerade bei so einem Projekt sieht man die Wirklichkeit erst, wenn das Boot aufgeriggt im Wasser schwimmt. Leo kann sich glücklich schätzen, einen solchen Fachmann wie Jack mit im Boot zu haben. Wahrscheinlich bietet auch er seine Dienste ohne Berechnung an, weil er wie so viele andere Fachleute und Laien in das Tally-Ho-Projekt verliebt ist.
Vorlesung vorbei, zurück zur Praxis
Nach gut 20 Minuten ist auch diese kurze Lehrstunde vorbei und die Fans, die Holzbootsbau mit einer fröhlichen Truppe Bootsbauer sehen wollen, atmen auf. Viele Follower interessieren sich aber auch an diesem wichtigen Punkt für die Segel-Performance und die Authentizität des Projektes, wie man aus den Kommentaren lesen kann. 20 lehrreiche Minuten sind auch nicht zu lang und es gibt bestimmt bald wieder richtigen Bootsbau zu sehen.
Leo ist am Ende erleichtert, auch dieses Kapitel abgehakt zu haben. Er freut sich, wieder an die Arbeit zu gehen, und verabschiedet sich mit der altbekannten Formel: „A massive thank you to everybody who has donated or otherwise supported this project. I will see you next time, cheers.“

Nicht in diesem Video zu sehen ist die Rückkehr von Volunteer Patrick, der inzwischen zu einem Freund und festen Mitarbeiter geworden ist. Beide sind total happy, dass es wieder an die Arbeit geht. Die anderen Kollegen trudeln nach und nach ein. Wir sind gespannt aufs nächste Video.