Sprechen Segler von einem Bergfest? Wie auch immer, beim Golden Globe Race 2022 ist die Hälfte der Strecke geschafft. Die Spitzentruppe hat das Photo Gate vor Hobart in Tasmanien noch im letzten Jahr passiert. Als Fab Four haben sich herausgeschält: Simon Curwen als John, Kirsten Neuschäfer als Paul, Abhilash Tomy als George und Michael Guggenberger als Ringo.
Ringo Starr musste zwar den Hofnarr des Beatles-Quartetts mimen, aber er hatte auch wirklich den größten Spaß mit seinem Musikerkollegen und besten Freund Harry Nilsson und Kumpels in der Karibik. Er ist nicht das schlechteste Vorbild für einen Einhand-Abenteurer in einer Langkieler-Nussschale.

Resilienz treibt in diesen multiplen Krisen-Zeiten auch die Menschen auf dem Festland um, aber für Solo-Segler im Pazifik ist sie existenzbestimmend. Die schönsten Zeilen dazu hat Harry Nilsson ins Logbuch diktiert: „Pretty soon there’ll be nothing left for anybody / Pretty soon there’ll be no pretty sea to see / Pretty soon there’ll be nothing left for anybody / But from a raft of nothing we can build a boat.“ (Bald wird für niemanden mehr etwas übrig sein / Bald wird es kein schönes Meer mehr zu sehen geben / Bald wird für niemanden mehr etwas übrig sein / Aber aus einem Floß aus nichts können wir ein Boot bauen.)
Der Vierte wird der Erste sein
Michael Guggenberger braucht nicht viel, um sein Resilienz-Reservoir zu füllen: 30 Liter frisch aufgefangenes Regenwasser und eine nicht aufgeweichte Tafel Schokolade. Der Grünschnabel der Spitzentruppe hatte am Morgen des 31. Dezember Land in Sicht, eine Woche nach Simon Curwen. Das ist eine satte Leistung für jemanden, dessen Segelbiographie bis zum Golden Globe Race Regatta- und Southern-Ocean-frei war.

Der 62-jährige Simon Curwen kam zwar erst im jetzigen Alter von Michael Guggenberger zum Offshore-Segeln, hat aber seit 20 Jahren in der Mini- und der J/105-Klasse seine Nase vorgestreckt. Er wurde Zweiter im Mini Transat 2001 und Klassen-Erster beim Rolex Fastnet Race 2007.
Kirsten Neuschäfer ist mit dem Southern Ocean auf Du, seit sie Expeditionsleiter Skip Novak mit seiner Pelagic Australis in die Antarktis und nach Patagonien begleitete. Commander Abhilash Tomy meisterte 2011 eine non-stop Einhand-Weltumseglung im Auftrag der indischen Marine. 2013 schloss er die Hattrick-Umrundung von Kap der Guten Hoffnung, Kap Hoorn und Kap Leeuwin ab.

Beim Videointerview vor Hobart in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar sieht Michael Guggenberger dann aber doch so aus, als ob ein umfangreicheres Wellness-Programm angezeigt wäre. Hinter seinem Rauschebart flackern die Augen glasig vor Übermüdung. „You look kind of okay“, versucht sich die Interviewerin an einem Lob.
„It’s getting boring a bit“, resümiert Captain Gugg die zurückliegende Segeletappe. Aber der christliche Kalender gibt ihm auch solo auf See Halt. Immer sonntags wird nicht gearbeitet. Zum Ende des Interviews drückt er noch mal das Kreuz durch: „Ich bin sehr stolz hier zu sein – jetzt geht es ans Heimfahren.“
Richtig reisen
Mit dem Flugzeug von Paris nach Hobart braucht man keine 30 Stunden. Per Segelyacht dauert es 80 mal so lange: 3 1/2 Monate oder 2.520 Stunden. Was fangen nur die Flugzeugpassagiere mit den überzähligen 2.490 Stunden an?

Simon Curwen auf Platz eins erreichte Hobart am Weihnachtsabend. Er führte bis zum Gate mit guten 200 Seemeilen Abstand vor Kirsten Neuschäfer, hat sich aber in den Schwachwinden der letzten Etappe so gelangweilt, dass er nicht nur sein Schiff, sondern auch seinen Bart frisch getrimmt hat. Man riecht geradezu das After-Shave auf seinem aalglatten Kinn, während er philosophisch zu Protokoll gibt: „Als ich im Nordatlantik eins von drei Solarpaneelen verlor, machte mich das etwas unruhig. Das ist lange her.“
Kirsten Neuschäfer folgte ihm einen Tag später am Gate mit ihrer Universal-Losung „All good“. Beim Video-Call vor Hobart sah sie aus, als hätte man sie gleich mehrmals durch einen Jungbrunnen gezogen. Diese Frau hat ihr natürliches Habitat gefunden.

Auf dem Weg von Hobart nach Osten rangelt sie mittlerweile mit Simon Curwen um Platz eins. Sie ist zwar 30 Stunden hinter ihm. Wegen ihrer Rettungsaktion für Tapio Lehtinen kann sie sich aber 35 Stunden gutschreiben. Heißt: Sie führt auf dem Papier mit 5 Stunden vor Simon Curwen.
Auf dem Meer gibt es keine Trampelpfade
Eine große Schippe Lässigkeit hat sich Abhilash Tomy aufgeladen. Über die 3 1/2 Monate hat er sich vom geschniegelten Paradesoldaten zum verwegenen Dynamitfischer gewandelt. Ihm sprießt der Vollbart, lockt sich das Haupthaar, fletscht sich das Lebenskünstlergrinsen. Beim nächsten Gate vor Punta del Este sollte er als Corto Maltese mit langen Koteletten und goldenen Creolen einlaufen. Spätestens dann wird ihn sich Bollywood angeln.

Nicht ganz so schillernd drücken sich Ian Herbert-Jones, Guy Waites und Jeremy Bagshaw auf den hinteren Rängen herum – und fallen immer weiter hinter die Fab Four zurück. Aber was soll’s, das Kielwasser der Vorsegler ist längst zerflossen und der Ozean liegt vor den Nachzüglern genauso unberührt wie vor Simon Curwen.
https://www.youtube.com/watch?v=ieqAKeloSdU
Und ihm gingen schon Bernard Moitessier, Charles Darwin, Hermann Melville, Fletcher Christian und Joseph Conrad voraus. Das Beste am Ozean ist, dass niemand „… was here“ hineinritzen kann.