Ken kommt nicht. Er hat es nicht geschafft. Wir liegen bereits in einer ruhigen Bucht unterhalb der Festungsruine von Kaleköy in der Nähe der versunkenen Stadt Kekova, als uns die Nachricht erreicht. Die Australier Brigit und Mel sind schon seit ein paar Tagen hier, ebenso Jim aus England. Mit drei Booten sind wir mittags in Kaş aufgebrochen. Zu einem Törn unter besonderen Vorzeichen: Bewegung in kleinem Radius.
Jan aus München, dessen Segelpartnerin nach einem Deutschlandbesuch im März nicht mehr zurückkommen konnte, Darrel, ein australischer Einhandsegler, und wir, die Dilly-Dally-Crew. Später wollen noch Ken, ein Brite, und Karsten aus Dänemark folgen. Es ist Karfreitag, auch wenn das in der Türkei keine Rolle spielt. Aber wir alle wollen dem zunehmenden Corona-Wahn entgehen. Was gibt es da Besseres, als vor Anker in einer Bucht jenseits der Zivilisation zu liegen?
Bewegung in kleinem Radius

Die Türkei dürfte derzeit eines der letzten Länder sein, in dem Segeln noch erlaubt ist. Wenn auch mit Einschränkungen. An Bord dürfen nicht mehr als vier Personen sein. Und natürlich darf niemand mehr ein- und ausreisen. Auch dürfen wir den Bezirk nicht verlassen, in dem wir liegen. Für uns bedeutet das im Umkehrschluss: Wir können uns immer noch in einem Küstenstreifen von etwa 60 Seemeilen Breite bewegen.
Glück für uns: Kaş ist eine der schönsten Gegenden in der Türkei mit Dutzenden von Ankerbuchten. Bevor wir aber die Marina verlassen, müssen wir der Küstenwache Bescheid geben. Bootsname, Crew und vor allem das Alter interessieren. Schon seit Wochen gibt es in der Türkei eine Ausgangssperre für Menschen, die älter als 65 Jahre sind und seit kurzem auch für unter Zwanzigjährige. Wir liegen ziemlich genau in der Mitte. Glück gehabt! Und so starten wir unser Projekt „Arche Noah“.

Unser Projekt „Arche Noah“
Neben Arzum ist diesmal auch Cingene, eine borderprobte, immer lächelnde Promenadenmischung, mit an Bord – und als Novize Oğluş, ein reinrassiger Siamkater. Wir nennen es Projekt „Arche Noah“: Hund, Katze, Mensch. Da wir nicht wissen, wie der Kater sich an Bord macht, sind wir etwas nervös. Beruhigung gibt uns Jim in Form eines riesigen Fischnetzes, mit dem wir die Katze aus dem Wasser fischen könnten. Ein Tipp von Bridgit, der Australierin, deren Katze sie bereits zweimal aus dem Meer retten musste.
Mehr Sorgen mache ich mir allerdings, als wir den kleinen Zoo zum Boot bringen. Typisch Türkisch beginnt die Reise mit einer kleinen Rollertour. Arzum sagt, dass sei kein Problem, ich habe da leise Zweifel. Sie sitzt am Lenker, zu ihren Füssen der Hund, der die Fahrt sichtlich genießt und jeden Lkw, den wir überholen, anlächelt. Dahinter hocke ich, etwas verkrampft – ob der Situation im Allgemeinen, aber im Speziellen wegen des großen Käfigs, in dem die Siamkatze ihr Leid klagt. Aber Arzum hat recht. Wir überleben.

Am ersten Tag lassen wir die Katze unter Deck. Sicher ist sicher. Es ist ein herrlicher Segeltag vor dem Wind. Als wir die griechische Insel Kastellorizo passieren, kommt ein hochmotorisiertes rotes Schlauchboot auf uns zugerast. Es ist von der türkischen Küstenwache. Zwei nette Beamte kommen längsseits, gleichen unsere Daten mit einer Liste ab, dann dürfen wir weitersegeln. Sie düsen zurück Richtung Marina. Sie haben ein weiteres Segel am Horizont gesichtet: Ken.
Marina-Gossip per WhatsApp
Als wir ein paar Stunden später im Sonnenuntergang den Anker fallen lassen, hat die Nachricht sich bereits herumgesprochen. Der Marina-Gossip überträgt sich per WhatsApp auch in die ablegenste Bucht. Die Küstenwache habe Ken zurück in die Marina eskortiert, mehrere Beamte seien an Bord. Von horrenden Strafzahlungen ist die Rede. Andere spekulieren darauf, Ken und seine türkische Lebensgefährtin würden sogar verhaftet. Karsten, der Däne, ist sauer. Bis der Fall geklärt ist, darf keine andere Yacht die Marina verlassen. Dabei wollte er doch seinen neuen Bordgrill testen.

Die Informationen, die uns erreichen, sind genauso wirr wie die immer neuen Bestimmungen, die die türkische Regierung im Kampf gegen das Corona-Virus erlässt. Aber ziemlich sicher ist, dass Ken sein Alter zum Verhängnis geworden ist. Er ist über 65 Jahre alt. Für ihn gilt die Ausgangssperre. Er sieht das anders. Da das Boot sein Zuhause ist, glaubt er, nicht gegen die Regeln verstoßen zu haben. Ein Yachtagent, der am Vormittag sein Transitlog aktualisierte, bestärkte ihn in seiner Argumentation. Also segelte Ken los.
Die Ausgangssperre führt zu Panikkäufen in den Geschäften
Gegen 22 Uhr, der störrische Kater hat sich seinem Schicksal ergeben und erkundet erstmals das Deck, poppt der neueste Streich der Behörden auf unseren Smartphones auf. In der halben Türkei gilt ab null Uhr, also in zwei Stunden, eine zweitägige Ausgangssperre. Für alle. In den Großstädten führt das zu einem panikartigen Ansturm auf die Geschäfte. Bilder wabern durch das Netz, wie tausende Menschen, die Hälfte davon ohne Mundschutz, die Geschäfte fluten. In den sozialen Medien wird heftig diskutiert, ob die Regelung auch für unsere Region gilt. Das offizielle Schreiben ist so krude formuliert, dass selbst Türken es nicht deuten können.

Die Gewissheit klopft um 2.30 Uhr ans Boot. Unsere Alarmanlage namens Cingene hat da längst angeschlagen. „Captain, Captain“, ruft der Mann von der Küstenwache immer wieder. Es ist ihm sichtlich peinlich, uns mitten in der Nacht zu wecken. Immer wieder entschuldigt er sich. Aber wegen der Ausgangsperre, die auch für unsere Region gilt, müssen wir zurück in die Marina.
„Aber ist es hier nicht viel sicherer?“, fragt Arzum, die ihren Kopf durch die Luke der Achterkoje streckt. Der Beamte nickt. Er verstehe auch nicht, warum wir – während der Ausgangssperre – zurück nach Kaş segeln müssen, um uns in einen Hafen zu anderen Booten zu packen. Aber er müsse die Anweisungen befolgen, sagt er achselzuckend. Es reiche aber vollkommen aus, wenn wir am nächsten Morgen aufbrechen. Dann fährt er zum nächsten Boot vor Anker.
Pluspunkt für den Hund
Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr sind die Beamten zurück. Wieder höflich, wieder nachsichtig. Ob es uns möglich wäre, nach dem Frühstück aufzubrechen? Wir fragen, ob wir trotz Ausgangssperre noch kurz den Hund zum Gassi ans Land bringen könnten. „Aber sicher“, sagt der Beamte. Der Kater erleichtert sich unterdessen im Katzenklo unter Deck. Klarer Pluspunkt für den Hund. Selbst bei einer kompletten Ausgangssperre erlaubt der Hund uns, das Boot zu verlassen.
Sieben Stunden dauert die Rückreise. 18 Knoten Wind, blauer Himmel – herrlich. Wir müssen kreuzen, aber wir haben ja Zeit. Kurz vor Kaş nimmt uns die Küstenwache unseres Heimatorts in Empfang. Wieder sind die Beamten ausgesprochen nett. Aufgrund unseres Gassi-Ausflugs sind wir das letzte Boot unserer kleinen Flottille. Alle Schäfchen sind nun eingesammelt, die Küstenwache kann Feierabend machen. Wäre da nicht Darrel, der Einhandsegler aus Australien, der im Stadthafen festgemacht hat.
Da es kaum Mooringleinen im Hafen gibt, musste er den Anker setzen. Als das Boot fest war, sprang er beherzt ins Hafenbecken, um tauchend den Anker zu überprüfen. Als er auftauchte, hatte die Küstenwache ihn bereits am Haken. Schwimmen im Hafenbecken ist generell nicht erlaubt, schon gar nicht während der Ausgangssperre. Darrel hätte zumindest vorher die Küstenwache informieren müssen, sagen die Beamten.
Als sie dann eine Strafe von 500 Türkischen Lira (knapp 70 Euro) in Aussicht stellen, beginnt die ewig leidige Diskussion, die in angespannten Zeiten wie diesen selten zum Ziel führt. Um es kurz zu machen: Die „Diskussion“ geht über mehrere Tage, und aus 500 werden 3.500 Lira. Abzüglich 25 Prozent Skonto, wenn Darrel gleich bezahlt. Murrend gibt er seinen Widerstand irgendwann auf.

Brot für die Segler
Wir liegen derweil in der Marina. Wir dürfen während der Ausgangssperre das Boot verlassen, nicht aber das Gelände. Selbst die Marineros arbeiten, da die Geschäfte geschlossen haben. Marina-Mitarbeiter versorgen die Live-on-boards mit Brot. Gratis. Die Küstenwache registriert alle Segler, die auf ihren Booten leben. Von diesem Moment an gilt der Ort, an dem wir registriert wurden, als unsere Wohnung. Nicht das Boot an sich.
Ein türkischer Segler fängt allein an einem Morgen sieben Barrakudas. Drei Tage essen wir herrlich frischen Fisch. Die Ersatzwährung in der Marina sind mittlerweile Zigaretten. Da wir planten, mindestens eine Woche zu segeln, ist der Vorrat an Bord der Dilly-Dally groß genug, um alle Raucher in der Marina zu versorgen. In Situationen wie diesen zeigt sich wieder mal, wie groß der Zusammenhalt ist. Die meisten Segler lagen schon im Bett, als die abrupte Ausgangssperre verhängt wurde. Jetzt wird alles geteilt, was auf den Booten zu finden ist. Fisch, Bier und eben Kippen.

Die Katze ist immer noch etwas störrisch. Aber in der Marina lernt sie das Boot besser kennen. Nicht nur unseres; besonders das verwaiste Schiff des Nachbarn hat es ihr angetan. Dort verbringt sie den größten Teil der Ausgangssperre, schaut hin und wieder eingeschnappt zu uns herüber. Der Hund lächelt zufrieden.
Am Montag, als die Ausgangssperre wieder aufgehoben ist, setzen wir wieder Segel. Die Anordnung, kein Boot dürfe die Marina verlassen, wurde gekippt. Oder zumindest anders interpretiert. Und so macht sich die kleine Flottille wieder auf Richtung Kekova. Karsten, der Däne, ist erleichtert, dass er endlich seinen Grill testen kann. Nur Ken muss bleiben. Immer noch ist nicht klar, ob er 3.500 Lira wirklich zahlen muss. Denn er hat Widerspruch eingelegt – interessanterweise auf Anraten der Küstenwache. Die hatten den Vorfall zwar aktenkundig gemacht, meinten aber, dass die Strafe vor keinen Richter Bestand haben würde.
Kino auf der Dilly Dally

Am zweiten Abend in der Bucht starten wir unseren Kino-Abend, den wir eigentlich für Ostern geplant hatten. „Life of Brian“ wollen wir uns anschauen. Natürlich unter Einhaltung des Mindestabstands. Die Dilly-Dally wird zum Kino, das Groß zu unserer Leinwand an diesem windstillen Abend. Ein kleiner Beamer projiziert den Film ins Segel. Wir lassen mehrere Leinen zu Wasser, an denen sich die anderen Crews in ihren Dinghis festmachen können.
Mel, der Australier, hat zwei SUPs auf sein Dinghi montiert und darauf einen Sessel gezurrt. Jan hat sich in seinem Beiboot in einen Schlafsack gekuschelt. Karsten und Hande, seine Freundin, schöpfen Wasser, denn ihr Dinghi hat ein Leck. Und wie in jedem guten Kino gibt es Popcorn für alle – aus der Dilly-Dally-Bordküche. Bierdosen zischen, Kippen glühen, Popcorn raschelt, das alles unter einem gigantischen Sternenhimmel. Mel, ein mehrfacher Sydney-Hobart-Veteran, kann fast den ganzen Film mitsprechen. Immer wieder schüttelt er den Kopf, lacht, nippt am Bier. „Das ist das beste Kino in der Welt“, sagt er. „Und das in diesen Zeiten.“
Und Ken? Der liegt in der Marina. Weil ihm langweilig ist, will er das SUP des Nachbarn ausprobieren. Er kommt nicht weit. Die Marineros stoppen ihn. Er dürfe als über 65-Jähriger das Boot nicht verlassen, sagen sie ihm. Kurz will Ken sagen, dass doch nach der Registrierung durch die Küstenwache die Marina als Wohnung gelte. Und er dürfe ja auch an Land innerhalb des Geländes sich frei bewegen. Aber er lässt es dann doch. Diskussionen und Prinzipienreiterei sind in diesen Zeiten unangebracht. Er paddelt zurück.