Arzum schicke ich unter Protest in die Kabine, zusammen mit den Tieren, die sie beruhigen soll. Sie will mir helfen an Deck, aber alles, was ich jetzt brauche, ist Ruhe. Und Konzentration. Die Blitze zucken im Stakkato vom Himmel. Links, rechts, vor uns, hinter uns. Ich versuche die Zellen auszumachen, um einen Weg durch sie hindurch zu finden. Im Minutentakt ändere ich den Kurs, unser Track auf dem Kartenplotter wird später aussehen wie der schwankende Gang eines Matrosen nach dem ersten Landgang.

Und immer wenn ich glaube, einen Weg durch das Gewitter gefunden zu haben, zuckt genau dort ein Blitz. Die Atmosphäre ist gespenstisch – und aufgeladen. Man glaubt, man kann das Knistern der Blitze fühlen. Ich habe Arzum gesagt, dass auch ich, wenn wir in eine Gewitterzelle geraten, nach unten komme. Aber ich versuche so lange wie möglich an Deck zu bleiben. Um Sicherheit vorzugaukeln.
Elektronik im Backofen
Arzum hat derweil die elektronischen Instrumente im Backofen verstaut, der sie bei einem Blitzeinschlag wie ein Faradayscher Käfig schützen soll. Die Smartphones haben wir zudem in Metallkisten verpackt und dann in die Röhre geschoben. Neben der Funke liegt die eingeschweißte Anleitung für Hilferufe, die Arzum sich vor der Reise parat gelegt hat.
Ich habe auf der Seekarte unsere letzte Position eingetragen, um im Fall der Fälle zu wissen, wo wir sind und welchen Kurs wir einschlagen müssen. Schwimmwesten für Hund und Katze liegen bereit. „Jens nimmt den Hund, ich die Katze“, geht Arzum im Geiste immer wieder das Worst-Case-Szenario im Kopf durch.
Das Starren in die Nacht ist anstrengend. Immer noch kann ich keine anderen Boote auf dem Kartenplotter sehen. Wie schön wäre es zu wissen, dass auch noch andere Yachten oder Frachter hier draußen sind und im Notfall helfen könnten. Und dann erspähe ich ein Licht voraus. Wie weit es entfernt ist, kann ich nicht sagen. In tiefschwarzer Nacht ist es unmöglich, Entfernungen zu schätzen. Immer wieder sehe ich es. Es gibt mir Hoffnung und ein Stück Sicherheit. Dann wird es von einer Gewitterzelle verschluckt. Ich ändere den Kurs erneut.
Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht. Seit Stunden sitze ich angespannt am Steuer und starre auf Blitze, gigantische Wolkentürme und fahre Slalom. Es scheint, als hätten die Unwetterzellen einen Treibanker geworfen. Sie stehen am Himmel wie gigantische Ufos, die die Erde unter Beschuss nehmen.
Verfrühte Entwarnung
Aber so schiebt sich die Dilly-Dally langsam an ihnen vorbei. Immer wieder kommt Arzum an Deck, fragt, ob sie helfen kann. Ich schüttele den Kopf, schicke sie wieder zu Hund und Katze. In Ruhe an Deck bin auch ich ruhiger, kann mich besser konzentrieren. Dann beginnt es leicht zu regnen, der Wind legt kaum spürbar zu. Aber keine Böen, kein Sturm. Dafür ist es plötzlich kalt, die Luft klarer.
Es muss gegen zwei oder drei Uhr sein, als ich mir einen Kaffee mache. Ich schaue nach Hund, Katze und Maus, die in der Achterkabine kauern. „Ich glaube, es ist vorbei“, sage ich. „Die Gewitter liegen jetzt hinter uns.“ Der Wasserkessel pfeift. Während ich den Nescafé zubereite, schaue ich aus dem Fenster. Wieder Blitze. Und zwar vor uns!
Das Bangen geht weiter. Aber es scheint, als wenn die Blitze diesmal etwas weiter weg wären. Und dann sehe ich endlich ein AIS-Signal vor uns. Rund 20 Meilen. Vielleicht ist es das Licht, das ich zuvor gesehen habe. Aber etwas wundert mich. Das Schiff fährt nur 0,6 Knoten. Ist das Boot etwa vom Blitz getroffen worden und in Seenot?
Es liegt genau auf unserem Kurs. In vier Stunden, immer noch im Dunklen, dürften wir es einholen. Das Funkgerät ist auf Kanal 16 eingestellt. Ich will versuchen, das Boot anzufunken. Als ich die Daten aufrufe, sehe ich, dass es sich um einen treibenden Frachter handelt. Anscheinend doch keine Notsituation.
Tiefschlaf im Cockpit
Bis zum Morgen bauen sich immer neue Fronten auf. In der Dunkelheit ist es schwer auszumachen, wohin sie sich bewegen. Manchmal, wenn ich den Weg zwischen zwei Gewitterzellen ansteuere, scheinen sie sich zu verbinden, eine Mauer zu bilden, die uns den Weg versperrt. Aber mit viel Glück können wir dem Gröbsten entgehen. Mit der aufgehenden Sonne verschwindet die Gewitterfront hinter uns.

Der Himmel ist plötzlich wolkenfrei und strahlt im schönsten Blau, als hätten wir uns die Gewitter nur eingebildet. Champagner-Segeln ist für die nächsten Stunden angesagt. Trotzdem ändere ich den Plan. Die Nacht ohne Schlaf hat mich zermürbt. Ich bin müde, der Kopf dröhnt, die Augen sind schwer. Für eine halbe Stunde falle ich in einen tiefen Schlaf im Cockpit.
Wir segeln jetzt nicht auf die Stiefelspitze zu, sondern etwas weiter nördlich nach Roccella Ionica. Das verkürzt die Passage um 30 Meilen. Statt am Morgen müssten wir Roccella gegen vier oder fünf Uhr nachts erreichen. Vergangenes Jahr hatten wir dort einen Tankstopp in der Marina eingelegt.
Vor dem weiten Sandstrand kann man mühelos in fünf Meter Tiefe ankern, selbst nachts, auch wenn die Küste nicht vor Schwell geschützt ist. Aber das ist mir egal. Ich will nur schlafen.
Wir segeln in einen traumhaften Sonnenuntergang. Genauso hatten wir uns das vorgestellt. Dann wird es dunkel und die Erinnerungen der letzten Nacht holen uns ein. Auch wenn diesmal über uns die Sterne leuchten, Sternschnuppen vom Himmel fallen und der Mond, immer noch fast voll, hinter uns aufgeht und uns den Weg leuchtet. Man kann sagen, wir sind ein Stück weit traumatisiert. Oder zumindest paranoid.