Der 7. Oktober 2019 ist ein Montag. Zu dieser Jahreszeit befinden sich bereits viele Yachten im Winterlager. Auch im riesigen Hafen Kiel-Schilksee am Nordwestausgang der Kieler Förde haben sich die Stege geleert. Es ist 16.35 Uhr, als ein 5,70 Meter langer amerikanischer Silverliner ausläuft. Ein schlanker, blonder Mann steht am Steuer des 41 Jahre alten Motorbootes „Santiano“.
Er schlägt einen nördlichen Kurs ein, Richtung Dänische Südsee. Das Meer ist ruhig und etwa zehn Grad Celsius warm, in zwei Stunden wird die Sonne untergehen. Mit seinem 140-PS-Motor sollte Christoph H. es schaffen, rechtzeitig in Bagenkop anzukommen, wo er für zwei Nächte eine Unterkunft gebucht hat. Doch er kommt nie an.
Drei Tage nach seinem Auslaufen meldet ihn seine Frau Olena als vermisst. Die Kieler Wasserschutzpolizei versucht zunächst nur, den Aufenthaltsort des Vermissten zu ermitteln, denn jeder Erwachsene darf sich grundsätzlich frei bewegen. Per Handy erreichen die Beamten lediglich die Mobilbox von Christoph H. Durch eine Datenabfrage erfahren sie, dass der Vermisste zuletzt in einem ausländischen Funkmast eingeloggt gewesen war.
Die Beamten machen nicht viel Hoffnung
Die Beamten machen Olena H. nicht viel Hoffnung, ihren Mann nach drei Tagen noch rechtzeitig zu finden. Eine, maximal zwei Stunden könnte er im Meer überleben. Olena H. reagiert gefasst. Sie berichtet von einem leeren Karton, den sie zu Hause gefunden hatte. Darin hatte sich ein aufblasbares Schlauchboot befunden. Vielleicht habe ihr Mann dieses an Bord gehabt und sich damit retten können?

Um 18.47 Uhr eröffnet die Seenotleitung Bremen einen Einsatz, der mehr als 26 Stunden dauern wird. Acht Seenotrettungsboote beteiligten sich daran, darunter die „Hans Hackmack“ von der Station Grömitz, die „Gerhard Elsner“ von der Freiwilligen-Station Eckernförde und die „Ursula Dettmann“ von der Freiwilligen-Station Gelting. Involviert sind noch weitere fünf Behördenfahrzeuge sowie das Bundespolizeiboot „Bayreuth“.
Ein Marine-Hubschrauber und ein Ölüberwachungsflugzeug unterstützen die Suche von der Luft aus. Mehrfach funkt die Seenotküstenfunkstelle Bremen Rescue Radio den Seenotrettern eine Dringlichkeitsmeldung und bittet alle Schiffe in der Kieler Bucht, Ausschau nach dem Schiffbrüchigen sowie der vermissten und möglicherweise nur halb gesunkenen „Santiano“ zu halten. Eine Segelyacht und ein Frachter folgen außerdem dem Aufruf.
Dabei hatte ein Spaziergänger bereits am 8. Oktober 2019 den Bug eines gesunkenen Bootes gesichtet, 300 bis 400 Meter vor der Küste von Schönberg, gleich östlich der Kieler Förde, entfernt. Am 11. Oktober 2019 wird genau dieses Boot als die „Santiano“ identifiziert und vom Technischen Hilfswerk geborgen. Da sich an Bord keine Person befindet, suchen die Seenotretter weiter rund um das Boot. Erst um 21 Uhr wird der Einsatz ergebnislos abgebrochen.
Sein erster Fall
Die Ermittlungen übernimmt Torben M. von der Kriminalpolizei Kiel. Der 23-Jährige ist schlank und sportlich, die hellbraunen Haare trägt er kurz. In seiner Freizeit spielt er Fußball. Er ist umgänglich und engagiert. Seit zehn Wochen erst arbeitet er in der Dienststelle für vermisste Personen. Die Suche nach Christoph H. ist sein erster Fall.

Der Kommissar fährt zum Fundort des gesunkenen Boots. Äußerlich wirkt es unbeschädigt, nur die Rettungsmittel fehlen an Bord. Er überzeugt sich davon, dass auf dem Schiffsrumpf tatsächlich „Santiano“ zu lesen ist, dann begibt er sich wieder zurück in seine Dienststelle. „Bei Vermisstenfällen wird darauf geachtet, dass man keine Straftaten übersieht“, erklärt Torben M. ein gutes Jahr später vor dem Kieler Landgericht. Er sitzt am Zeugentisch, der einst gesuchte Christoph H. links von ihm auf der Anklagebank: Ein Mann mit bravem, mittelblonden Seitenscheitel, das Gesicht von einer Maske bedeckt.
Christoph H. ist 53 Jahre alt, wirkt aber mindestens zwanzig Jahre jünger. „Student“ hat er auf die Frage des Richters nach seinem Beruf geantwortet. Mitglieder seiner Familie erinnern sich, dass Christoph H. 1992 ein Zahnmedizin-Studium in Göttingen begonnen hatte. Dort war er exmatrikuliert worden, nachdem herausgekommen war, dass er ein Zahnmodell, das er selbst anfertigen sollte, bei einem Zahntechnik-Labor in Auftrag gegeben hatte. Er immatrikulierte sich dann an den Universitäten Köln, Rostock, Ulm, Freiburg und Kiel, ohne seine akademische Ausbildung jemals zu beenden.
Elegant und teuer
Vor Christoph H. hat seine Frau Olena neben ihrem Verteidiger Platz genommen: Die 53-Jährige stammt aus der Ukraine. Ihre Haare sind blondiert, ihre Gesichtszüge wirken schlaff. Sie wirkt, als sei sie die Mutter des Angeklagten. In ihrer Jugend war sie Leistungsschwimmerin.

Derzeit ist sie von der Untersuchungshaft verschont. Sie arbeitet für ein paar Stunden in der Woche als Schwimmlehrerin – ehrenamtlich, gegen eine Aufwandsentschädigung von 180 Euro im Monat. Zum Prozessauftakt trägt die schlanke Frau einen dunkelblauen Regenmantel zu einer großen braunen Ledertasche: eine geschmackvolle Kombination, die teuer wirkt.