Daniel Lütkenhaus ist auch Stunden nach der atemberaubenden Sichtung immer noch unter Strom. Dan, wie er sich rufen lässt, spricht schnell, ohne Punkt und Komma. Er kann nicht fassen, was er und seine Frau Eva am Nachmittag auf dem Skagerrak gesehen haben. Am Abend sitzt er mit anderen Seglern zusammen im Hafen von Skagen und schaut immer wieder die kurze Videosequenz an.


Vor dem Bug ihrer „Paikja“, einer Bavaria 35 exclusive, springt ein Schwertwal aus der grauen Nordsee und platscht auf das Wasser. Ungläubig schütteln die deutschen Segler den Kopf. Von einer Orca-Sichtung im Skagerrak, ihrem Revier kurz vor der Ostsee, hätten sie bislang noch nichts gehört. „Zum Glück“, sagt Lütkenhaus, „haben wir den Schwertwal filmen können. Das hätte uns sonst niemand hier geglaubt.“ Dan soll die Sichtung unbedingt den Behörden melden.
Die Angst der Segler
Schwertwale, auch Orcas genannt, sind hochintelligente Wesen mit einem beachtlichen Jagdinstinkt. Sie nehmen es sogar mit Weißen Haien auf und schließen sich in Gruppen zusammen, um sehr viel größere Wale zu erlegen, weshalb ihnen auch der wenig schmeichelhafte Beiname „Killerwal“ anhaftet. Für Menschen sind Schwertwale ungefährlich.
Doch seit drei Jahren verbreiten Schwertwale an der Atlantikküste der Iberischen Halbinsel Angst unter Seglern. Mittlerweile sind viele Fälle dokumentiert, in denen die Schwertwale Segelboote attackieren und die Ruder zerstören. Der erste Vorfall ereignete sich im Mai 2020 in der Straße von Gibraltar. Im Juni und November 2022 sanken zwei Segelboote in Folge der Interaktionen, im Mai 2023 wurde ein Boot so stark beschädigt, dass es vor der Küste von Barbate aufgegeben werden musste.

Die „Interaktionen“ mit Segelbooten haben drastisch zugenommen. Interaktionen deshalb, weil Wissenschaftler und Verhaltensbiologen immer noch über die Ursachen für das sonderbare Verhalten der Meeressäuger rätseln. Ist es Spieltrieb oder sind die Wale mit der steigenden Belastung durch Schiffe, Lärm und Klimaveränderungen verstört? Was auch immer die Grund sein mag: Für Segler sind es Angriffe auf ihr Boot.
Nicht nur qualitativ haben die Vorfälle zugenommen. Im Juni 2023 berichtet der britische Guardian von einer ersten Interaktion mit einem Segelboot in der Nordsee, ohne einen Zusammenhang mit den Interaktionen in der Meerenge von Gibraltar herstellen zu können. In der Nähe der Shetland-Inseln soll ein Orca ein Segelboot mehrfach gerammt haben. Der 72-jährige Skipper war mit seiner Yacht allein auf dem Weg nach Bergen in Norwegen. Ein Einzelfall? Der spanische Forscher Ranaud de Stephanis, Gründer und Direktor der Forschungsgruppe Circe, hält einen Zusammenhang nicht für möglich.
Ein Sommer in Skandinavien

Der 15. August ist ein Dienstag. Die Nordsee hat die Farbe des Himmels angenommen. Ein bleiernes Grau liegt über dem Skagerrak, als die „Paikja“ vom schwedischen Lysekil zum dänischen Skagen aufbricht. Erst gegen Mittag nimmt der Wind etwas zu. „Vielleicht 8 bis 10 Knoten“, sagt Dan Lütkenhaus. Die „Paikja“ stapft unter Segeln durch das Meer.
Es ist kurz nach 15 Uhr, als die beiden Segler plötzlich aufschrecken. Etwa zehn Meter neben ihrem Boot ragt plötzlich eine große Flosse aus dem Wasser. Aufregung an Bord. War das etwa ein Wal? Aber ebenso schnell wie die Flosse auftauchte, ist sie auch wieder verschwunden, um dann wenige Sekunden später auf der anderen Seite des Bootes wieder zu erscheinen. Für Dan und Eva besteht kein Zweifel mehr. Ein Wal schwimmt neben ihrem Boot. Oder unter dem Boot? Sie notieren ihre Position: 57’52.356 N, 010’56.669 O. Sie können ihr Glück kaum fassen. „Vielleicht ein Grindwal“, spekuliert Eva.
Eine Begegnung der seltenen Art
Die beiden zücken ihre Smartphones, filmen das Wasser. Vielleicht taucht der Wal noch einmal auf. Angst, sagt Dan, hätten sie keine gehabt, vielmehr seien sie fasziniert gewesen ob des Naturschauspiels. Und dann taucht der Wal tatsächlich noch einmal auf, genau vor der Linse. In einiger Entfernung schießt ein massiger schwarzweißer Körper aus dem Wasser, wirft sich in die Luft, legt sich auf die Seite, um in einer Fontäne auf das Meer zu platschen.