Pianguas isst kaum eine der Fischerinnen. Pianguas selbst essen, das ist wie Geldscheine verbrennen. Die Muscheln sind Delikatessen im nahen Ecuador, ähnlich wie bei uns Austern. Doch es gibt Pianguas nur noch an der Pazifikküste Kolumbiens: Dort wachsen sie im Schlick zwischen den Wurzeln der Mangroven.
Im gewünschten Format sind die Muscheln etwa handtellergroß. Und mit der Hand werden sie gesammelt. Wer Pianguas haben will, muss geduldig in der Sonnenhitze danach suchen, begleitet von Moskitos, bedroht von giftigen Schlangen. Es ist ein Job, den niemand freiwillig macht – zumal der Verdienst gering ist.
Die Fischerinnen fahren täglich im Boot hinaus in die Mangroven. Neuerdings tun sie das lautlos: Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat ihnen der Bootsmotorenhersteller Torqeedo fünf elektrische Außenbordmotoren zur Verfügung gestellt. Damit sparen die Piangua-Fischerinnen teuren Kraftstoff – und schonen das empfindliche Ökosystem der Mangrovenwälder.

In der Kneipe kennengelernt
Zwei deutsche Wissenschaftler haben die Hightech-Ausrüstung initiiert: Gordon Wilmsmeier ist Professor und leitet den Stiftungslehrstuhl für Logistik der Kühne-Stiftung an der Universidad de los Andes in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Stefan Sorge bezeichnet sich selbst als „eine Mischung aus Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler“ und arbeitet an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Kennengelernt haben sich die beiden in einer Kneipe in Santiago de Chile.

Eine flüchtige Bekanntschaft, aus der das international viel beachtete Entwicklungsprojekt InnoPiangua entstand. Projektpartner der Universidad de los Andes und der HTW Berlin sind öffentliche Institutionen wie die kolumbianische Fischereibehörde (AUNAP) und mehrere Umwelt-NGOs. Unterstützt wird das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und durch das kolumbianische Wirtschaftsförderprogramm Innpulsa.
Schutz für Natur und Menschen
Die beiden Forscher wollen herausfinden, wie Menschen in wirtschaftlich armen, abgelegenen und ökologisch hochsensiblen Gegenden nachhaltig wirtschaften können. Wie schützt man die Natur und verbessert gleichzeitig die Lebensbedingungen? Und wie lässt sich die Bevölkerung bei der Entwicklung von Lösungsansätzen einbeziehen?

Es gibt viel zu schützen: Die Region an der kolumbianischen Pazifikküste zählt zu den artenreichsten der Welt. Es ist das größte Einzugsgebiet von Zugvögeln in Amerika. Über 300 teils endemische Vogelarten leben rund um die Gemeinden Guapi und Iscuandé, etwa der bunte Tanager und die Kastanienwachtel. Klingt wie ein Paradies. Aber die Siedlungen der Region leiden unter massiver Armut und sind oftmals geprägt von Kriminalität. Früher spielten Drogen eine Rolle, heute ist es vor allem der illegale Goldabbau.
Die Bewohner der Mangrovenwälder leben weitestgehend abgeschieden in ihren Stelzenhäusern, Handy- und Internetempfang gibt es sehr eingeschränkt und oft gar nicht. Strom liefern Dieselgeneratoren nur für wenige Stunden am Tag. Zum Telefonieren setzt man sich schon mal ins Boot und rudert ein paar Minuten, um besseren Netzempfang zu haben. „Innovationen kommen hier oft nicht an“, sagt Wilmsmeier.

Hat der überhaupt genug Power?
Die Torqeedo-Motoren können weitgehend autark eingesetzt werden: Sie sind wartungsfrei, mit Hilfe von Solarpanels werden ihre Akkus bei langsamer Fahrt kontinuierlich nachgeladen. Als Wilmsmeier und Sorge das erste Mal mit einem Elektromotor in die kolumbianischen Mangrovenwälder fuhren, schauten die Einheimischen sie an, als seien sie verrückt geworden.
Denselben Effekt erlebten, einige Jahre zuvor, auch die Techniker und Aktivisten der NGOs, die am Pastaza-Fluss in Ecuador ein besonderes Boot einführten. Ein mit Sonnenenergie und Elektromotoren angetriebenes Boot verbindet dort die Menschen im Amazonasgebiet, von den dort lebenden Achuar „Tapiatpia“, der elektrische Fisch, genannt.

Männer, Frauen, Kinder und Alte umringten das merkwürdige Objekt, das die beiden Besucher aus Deutschland mitgebracht hatten: Ernsthaft – ein Motor, betrieben nur mit Strom, sollte ihre Boote durch die Sümpfe bewegen? Ein Gegenstand, der an einen Ventilator oder Computer erinnert und keinerlei Krach macht? Hat das überhaupt genug Power?
Als sinnvoll erwies es sich, die Menschen schnell mit den Motoren in Kontakt zu bringen. „Wir haben gesagt: ‚Hier, nimm mal mit, bau mal an dein Boot, fahr mal.‘ Wir haben nicht 50-mal erklärt, was alles nicht geht. Die Leute sollten es selbst herausfinden.“ Die Fischer wurden in dem Eindruck bekräftigt, tatsächlich den Kurs selbst bestimmen können.

Bilder erklären die Wartung
Die simple Bedienbarkeit der Elektromotoren tat ein übriges. Die Universität erstellte Bildversionen der Servicehandbücher mit leicht verständlichen Illustrationen für den Gebrauch und die Wartung der Motoren. Die Muschelfischerinnen waren die ersten, die die neue Technologie testen konnten. „Uns ist schnell aufgefallen, dass die Frauen offener für Innovationen sind. Außerdem schienen sie vorsichtiger mit den Motoren umzugehen“, glaubt Sorge.
Hinzu komme, dass Frauen besonders stark unter Armut und Unsicherheit litten und deshalb eher bereit seien, etwas zu verändern. Warum ist das so? „Die Tätigkeit des Piangua-Sammelns benötigt nur geringe Investitionen, und Frauen haben dort Schwierigkeiten, an Darlehen zu gelangen“, erklärt die private Öko-Stiftung One Earth Future den Zusammenhang.

Ein weiterer Aspekt: Lebensgrundlage in der Region ist der Fischfang. Die Dschungelbewohner legen ihre Netze im Rio Iscuandé, im Rio Guapi und in einigen der Nebenflüsse aus und fahren hinauf zum Pazifik. Traditionell ein Männerjob – harte Arbeit, in der die Fischer tagelang unterwegs sein können.
Hohe Spritkosten schmälern Ertrag
Ob zum Fischfang oder Piangua-Sammeln, die Boote werden mit traditionellen Außenbordmotoren angetrieben. Allerdings ist der Treibstoff so teuer, dass sich kaum Gewinn erzielen ließ: Die Benzinkosten für die Boote lagen bei etwa vier Euro. Um 100 Muscheln zu fangen, sind die Fischerinnen etwa vier Stunden unterwegs, suchen den schlammigen Untergrund rund um die Mangrovenbäume mit den Händen ab.
Der Lohn: fünf Euro. Natürlich sind die Lebenshaltungskosten dort weit geringer als bei uns. Aber tatsächlich können die Frauen mit dem Ertrag der Muscheljagd kaum die Familie durchbringen, hat One Earth Future herausgefunden.

Auch die Natur, die Lebensgrundlage der hier lebenden Menschen, wird durch die Verbrennungsmotoren verunreinigt. Das Forscherteam war überzeugt, dass Elektroaußenborder eine mögliche Lösung darstellen könnten.
Heute teilen sich 25 Muschelfischerinnen die vier Elektromotoren. Die Motoren hätten den Gewinn um 40 Prozent gesteigert, sagt Wilmsmeier im Gespräch mit float. Anfangs wurde der Strom für die Elektroaußenborder zunächst mit effizienten Generatoren gewonnen, später übernahmen das die Solarpaneele. Eine Win-win-Situation. Steigt der Gewinn, müssen die Frauen nicht so viele Muscheln ernten – und das kommt wiederum dem Artenschutz zugute, denn die Muschelernte ist seit Jahrzehnten rückläufig.

Spitzenköche entwickeln Rezepte
Die Muschelfischerinnen und die Wissenschaftler versuchen jetzt, neue, zahlungskräftige Abnehmer für ihre Beute zu gewinnen: kolumbianische Spitzengastronomen. Dabei hilft ihnen Leonor Espinosa, die bekannteste Köchin des Landes. Espinosa lud bereits zu einem Event, auf dem sie mit Kollegen neue Piangua-Gerichte kreierte.
Der Ursprung der Produkte war plötzlich ein Thema. Wilmsmeier und Sorge sind bereits mit Start-ups in Kontakt, die auf nachhaltige Logistik spezialisiert sind und die Muscheln aus den Sümpfen in die etwa 1.000 Kilometer entfernte Hauptstadt Bogotá transportieren sollen.
In Zukunft könnten so auch Krebse, Welse oder Barsche ins Landesinnere transportiert werden. Angesichts der finanziellen Vorteile der Frauen zeigen auch die Männer der Siedlungen um Guapi inzwischen zunehmendes Interesse am neuen Wirtschaftskreislauf. Und sie wollen von Wilmsmeier und Sorge wissen, ob die Elektromotoren in der Lage seien, ihre schweren, bis zu 800 Meter langen Netze zu ziehen.

Bei ihrem bisher letzten Besuch befestigten die Wissenschaftler schließlich einen Torqeedo Cruise Elektromotor an einem Boot und fuhren hinaus auf den breiten Rio Guapi, um zu demonstrieren, dass das kein Problem ist. Bis auch die Fischer für ihre Küstenfahrt Elektromotoren verwenden können, wird indes noch ein wenig Entwicklungszeit vergehen. Doch schon die bisherigen Erfolge können sich sehen lassen.
Eine Fischerin übernahm die Intiative
„Wir haben viel Glück gehabt“, sagt Wilmsmeier rückblickend zu float. Sie lernten aufgeschlossene Menschen kennen. Besonders beeindruckt waren er und Sorge von einer Piangua-Fischerin: Nynfa, die vier ältere Kinder hat und auch mit Anfang 40 noch täglich in die Mangroven fährt. Sie wohnt in dem winzigen Dorf Santa Barbara de Iscuandé.
„Ohne sie wäre das Projekt nicht so verlaufen“, sagt Wilmsmeier. Sie habe alle anderen motiviert, sich mit dem Thema zu beschäftigen und nicht locker gelassen.“ Während die Männer des Dorfes eher abschätzig am Rande gestanden hätten – „Die fahren lieber schnell und laut“ –, probierten die Piangua-Fischerinnen die Elektromotoren als erste aus.
Nachdem sie gemerkt hätten, wie gut die Sache funktioniert, sei ihnen sehr schnell noch etwas anderes bewusst geworden: „Sie wurden unabhängig.“ Bisher mussten sich die Frauen, wenn sie etwas erledigen, Freunde besuchen oder die Kinder von der Schule abholen wollten, die Männern um Erlaubnis fragen, deren Motorboote zu nutzen. Das war nun obsolet.
Die unterdrückte Mobilität der Frauen
„Es gab zuvor etwas, das man ‚unterdrückte Mobilität‘ nennen könnte“, sagt Wilmsmeier. Die kostenlose Mobilität der Torqeedo-Motoren befreite die Frauen. Innerhalb kürzester Zeit nutzten sie die Elektro-Außenborder nicht nur zur Fahrt in die Mangroven, sondern alles andere auch: Kirchenbesuche, Einkäufe, Familientreffen.

Wilmsmeier sagt lachend: „Schließlich wurden die Motoren für solche Freizeit-Aktivitäten mehr genutzt als für die Pianguas – innerhalb von sieben Monaten sind die damit 5000 Kilometer gefahren!“ Laut Torqeedo schaffen in Europa manche Eigner nicht in zehn Jahren solche Distanzen…
Wie eine Trophäe ins Zimmer gehängt
Auch von einigen Rückschlägen habe sich Nynfa nicht irritieren lassen: „Sie hat immer wieder versucht.“ Probleme, mit denen ein Mensch, der nie zur Schule gehen konnte, konfrontiert sind: Fehlercodes im Motor.“ Der Code E32 zeige zwar lediglich an, dass ein Kabel falsch angeschlossen ist. Doch wer das nicht versteht, sei aufgeschmissen.


Gordon Wilmsmeier: „Das hat mich extrem beeindruckt: diese Wissbegierde, die bei uns verloren gegangen ist, weil wir alles haben und alles so einfach geworden ist.“
Doch nicht überall sei das Projekt derart erfolgreich verlaufen: In einem Dorf war das Verständnis gering. Der Außenborder wurde wie eine Trophäe ins Wohnzimmer gehängt, aber nicht genutzt. Die Gruppe um Nynfa hingegen wurde immer initiativer. Der Höhepunkt war eine selbst organisierte Fahrt in die 19 Kilometer entfernte Stadt El Charco.
Höhere Pinangua-Preise in der Stadt
Dort konnten die Piangua-Jägerinnen ihre Beute zu einem deutlich besseren Preis absetzen als in den üblichen Ankauforten, die näher gelegen sind.
„Es ist unglaublich, wie sich alles entwickelt hat“, sagt Wilmsmeier. Er und Sorge denken bereits an den übernächsten Schritt: Sie träumen von Nationalparks, in denen die Menschen auch ohne fossile Brennstoffe mobil sind. Und sie arbeiten daran, dass die Kleinfischer mehr Geld verdienen, ohne die CO2-Emissionen zu steigern. In Iscuandé haben sie gesehen, dass es möglich ist.
Die kolumbianische Fischereibehörde hat bereits die Arbeitsgruppe „Nautische Elektromobilität“ eingerichtet. Gordon Wilmsmeier: „Wir wollen zeigen, wie offen und modern die Menschen in Regionen arbeiten, die sonst oft übersehen werden. Es ist durchaus möglich, dass die Entwicklungsländer die Industrienationen eines Tages im Bereich Elektromobilität überholen.“