Es sind diese kleinen Momente, die all die Strapazen vergessen lassen. Die Luft riecht plötzlich anders, die Farben ändern sich, Vögel umkreisen das Boot, erst einer, dann immer mehr. Und dann erhebt sich plötzlich aus dem Meer ein Gebilde. Oder ist es doch nur eine Wolke? Nein, mit jeder weiteren Meile wird es deutlicher. Aus dem Dunst über dem Horizont formt sich eine Landschaft. Land in Sicht!
Die Amelija, eine alte Amel Euros 41 aus dem Jahr 1976, segelt unter Vollzeug. Genua, Groß und Besan sind gesetzt. „Die letzten anderthalb Tage waren wir im Regattamodus“, sagt Jan Moritz und lacht, „wir wollten noch bei Tageslicht ankommen.“ Kurz bevor die Amelija nach 16 Tagen und 8 Stunden Barbados erreicht, greift die Sonne in den Farbtopf und malt die Insel jenseits des Atlantiks zum Empfang in prächtigen Tönen aus.

In einer Bucht warten bereits zwei befreundete Boote. Sie haben das Willkommensbier kaltgestellt, einen Sandspot zum Ankern mit einem Fender markiert und bejubeln die Ankunft. Die Amelija hat es geschafft. Nach 2.170 Seemeilen auf dem Ozean fällt gegen 22 Uhr der Anker.
Amel statt Apple
Die Geschichte der Amelija und ihrer Crew ist eine besondere. Jedes Jahr überqueren hunderte Segelcrews den Atlantik. Meist auf teuren Yachten, bestens ausgestattet, der Skipper erfahren. Viele Segler träumen ihr Leben lang von dem großen Abenteuer auf der weiten See. Manche träumen so lange, dass, wenn sie aufwachen, zu alt sind für die Herausforderung. Andere leben einfach ihren Traum. Und das in jungen Jahren. Wie die Jungs auf der Amelija – 18, 19 und 27 Jahre sind sie alt.
Während ihre Freunde zur Uni gehen, an der Karriere basteln oder ihr erstes selbstverdientes Geld in das neueste Smartphone oder die Spielekonsole der nächsten Generation investieren, wollen die drei die Welt kennenlernen. Ihr angespartes Geld investieren sie in etwas, das ihnen niemand mehr nehmen kann: unendliche Erfahrungen und unglaubliche Erlebnisse!

Erst vor einem Jahr haben die drei zusammengefunden. Nicht in der realen Welt, sondern online. Sie träumten den gleichen Traum. Das verbindet. Und so wurde aus einer Zweckgemeinschaft erst eine Eignergemeinschaft. Dann Freundschaft.
Die Crew
Zum ersten Mal begegnen sie sich in der realen Welt auf der Fähre von Zadar nach Veli Rat, da kaufen sie bereits ihr Boot. Es ist der 15. Mai 2022, ein Sonntag. Jan Moritz Brinkschulte steckt noch mitten im Abi, die schriftlichen Prüfungen hat er in der Tasche, die mündliche wartet noch auf ihn. Erdkunde, kein Problem für den damals 17-Jährigen. Die Zeit, ein Boot zu kaufen, gönnt er sich.
Jan Moritz segelt, seit er zehn Jahre alt ist. Erst auf Optis, dann auf Kieljollen. Auch wenn er den SBF See und den SKS-Schein gemacht hat, sind sein Revier die Seen in NRW. Sein großes Vorbild ist Lennart Burke. Auch der Profisegler hat nach der Schule mit einem Freund den Atlantik überquert. Jan Moritz will das auch. Aber im Freundeskreis kann er niemanden für diese Idee begeistern.

Elias Karaca, ein Jahr älter, kommt aus Heidelberg. Er hat sein Abitur bereits im Vorjahr absolviert. Dass er nach der Schule zunächst einmal auf Reisen gehen will, die Welt kennenlernen, Abenteuer erleben, stand für ihn schon lange fest. Gerade erst ist er aus dem Himalaya zurückgekehrt, mit seinem Vater war er dort klettern. Elias Eltern sind begeisterte Segler, haben ein kleines Boot und chartern auf dem Mittelmeer. Immer mit dabei: Sohnemann Elias. „Das war immer sehr cool“, sagt er. Und so reifte auch in ihm der Traum, auf große Fahrt zu gehen.
Und dann ist da noch Jan Even aus Leer. Mit 27 Jahren der älteste an Bord. Neun Jahre hat er bereits als IT’ler bei einer lokalen Behörde gearbeitet. Zeit für eine Luftveränderung. Auch wenn das Nordlicht kaum Segelerfahrung hat, reizt ihn die Vorstellung, auf einem Segelboot die Welt zu entdecken. Auf der Webseite von TransOcean, dem Verein der deutschen Hochsee-Segler, entdeckt er eine Crewbörse – und schreibt über seine Träume. Auch, dass er Gleichgesinnte sucht.
Das Kennenlernen
Hunderte Kilometer entfernt liest Jan Moritz den Eintrag. Auch er verfasst einen Beitrag und schreibt gleichzeitig seinen Namensvetter in Ostfriesland an. Keine Antwort. Tage vergehen, Wochen. Ohne irgendeine Reaktion.
Was beide nicht realisiert haben: Sie bekommen nicht automatisch eine Mail bei Antworten, sie müssen sich jedes Mal auf der Webseite einloggen. Als Jan das bemerkt, quillt sein Postfach bereits über. Und so antwortet er einfach auf die letzte Nachricht von einem Jan Moritz aus Menden. Erst Ende Februar entdeckt Jan Moritz die Nachricht aus Leer, da will er sich gerade bei der Börse anmelden. Die beiden tauschen sich per Videochat aus, sind sich sympathisch.