Die Documenta 15 treibt ihre ersten dezentralen Blüten. In Berlin betont man gerne, wie sehr das Leben ein Spiel ist. So auch das Kunstprojekt des Berliner Kollektivs ZK/U zur Documenta: ein umgedrehtes Satteldach als schwimmende Spielwiese für bunte Happenings.
Man könnte das auch steiflippiger formulieren. Aber bei einem improvisierten Bretterverhau mit einer Schiffsorgel aus Camping-Blasebälgen und Gymnastikbällen setzt die Erinnerung an die Bar 25 den Ton. Die Bar stand als berühmteste Erwachsenenspielwiese Berlins auf dem Holzmarkt-Grundstück an der Spree.

Mit ihrem 16-Meter-Floß Citizenship wird sich die Künstlercrew mit wechselnden Gästen auf dem Wasserweg Richtung Kassel aufmachen. In den sieben Wochen werden sie so viel Interaktion wie möglich mit den Einheimischen am Ufer provozieren.
Mitinitiator Matthias Einhoff frohlockt bei der ersten öffentlichen Begehung: „Wir werden als andere Menschen in Kassel ankommen, als wir in Berlin aufgebrochen sind.“ Ein paar heruntergeklappte Kinnladen werden sie jedenfalls am Wegesrande hinter sich lassen.
Was habt ihr zu viel?
Der Anstoß zum Citizenship kam von den Documenta-Machern. Sie wünschten sich vom Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U), dass es etwas mitbringen möge, von dem es zu viel habe. Die Halle des ZK/U am Berliner Westhafen wurde gerade erweitert – und das alte Holzdach war im Zuge der Neukonstruktion zu viel. Also funktionierte das ZK/U das Dach zum Rumpf um.
Das Citizenship ist mit einer Küchenzeile, einem Klokasten und zwei Reihen von Fahrrädern für den Pedalantrieb des Propellers ausgerüstet. Sieben Wochen strampeln, ziehen und rudern die Crew und ihre temporären Gäste über Havel, Weser, Fulda das Schiff bis nach Kassel, um es am 23. Juli am Kasseler Hiroshima-Ufer aus dem Wasser zu holen und zu einem kommunalen Zentrum umzustülpen.
Auf der Fahrt werden die Kunst-Pilger wie Bettelmönche an die Türen der Siedlungen auf ihrem Wege klopfen, um Kost und Logis zu erbitten. Im Gegenzug hebeln sie mit Performances den Alltag aus, damit hinterher niemand sagen kann, er hätte sein Leben verschlafen.
Über 20 Kunstgruppen haben sich bereits für einzelne Tourabschnitte angemeldet. Wenn die Privatoper Berlin hinter der Biegung des Flusses zur Ouvertüre anhebt, wird ein herrlicher Fitzcarraldo-Verfremdungsmoment aufkommen.
Das H macht die Musik
Einhoffs Partner Harry Sachs skizziert den Überbau: „Ein ICE braucht keine drei Stunden von Berlin nach Kassel, das Citizenship sieben Wochen. Wir liefern uns dem langsamen Atem aus – und den Menschen am Wegesrand. Die Schiffsbesatzung ist allein nicht überlebensfähig. Wir sind von der Hilfsbereitschaft der Mitbürger abhängig. Unsere Hilflosigkeit ist Programm.“ Die vorab kontaktierten Bürgermeister haben sich begeistert gezeigt.

Kunst als interventionistischer Wanderzirkus, als Schamanen-Übung in Resilienz? Solch einen kollektiven Heilungsansatz begrüßt unsere hyper-neoliberale Epoche, und sei es nur als ironischen Kommentar.
Zum Abschluss der Erstbegehung wird ein H überreicht, als Symbol für den gleichnamigen Ton: Die Luftlinie von Berlin nach Kassel zeigt auf dem Kompass 247 Grad. 247 Hertz entspricht dem Ton H. Bringt man das H zum Klingen, besänftigt es mit sonorer Tiefenmassage. So bestechend kann transzendente Logik sein.