Der rote Schwimmflügel glänzt in der Sonne. Ein schwarzes, nasses T-Shirt klebt an den Resten eines gekenterten Schlauchboots mitten auf dem Meer, falls man das notdürftige Konstrukt aus Holz und Auftriebskörpern überhaupt als Boot bezeichnen kann. Eine Leine fällt wie ein Lot senkrecht ins glasklare Wasser. Der Anblick ist schwer zu ertragen – und noch weniger ist zu verstehen, dass dieses dilettantisch zusammengeschusterte Ding die letzte Hoffnung für Menschen gewesen sein muss, die so verzweifelt waren, dass sie in der Nacht versucht haben, von der Türkei nach Rhodos zu gelangen.
Die Meerenge zwischen der griechische Insel und der Türkei ist an diesem Montag Ende September erstmals seit Tagen wie glattgebügelt. Bestes Flüchtlingswetter. Am Abend noch lagen wir in der geschützten Bucht Bozukkale vor Anker. Im Sailors House, einem kleinen Restaurant, haben wir fangfrische Calamari gegessen, mit Freunden auf einen schönen Tag angestoßen, das Leben genossen. Der Mond spiegelte sich auf dem Wasser. Hinten am Horizont leuchteten die Lichter von Rhodos, knapp acht Seemeilen entfernt.
Für uns schön anzuschauen. Für ein Schlauchboot so weit entfernt wie eine fremde Galaxie.
Als wir am Morgen aufbrechen, liegen 35 Meilen vor uns. Die Flaute ärgert uns. Normalerweise weht in dieser Ecke der Ägäis immer ein frischer Westwind, der uns geradewegs gen Osten gepustet hätte. Aber heute: Pustekuchen! Wie ein Spiegel liegt das Meer vor uns.
Treibgut oder Flüchtlingsboot?
Schon nach einer halben Stunde entdecken wir in etwa einer halben Meile Entfernung, ziemlich genau auf der Seegrenze zwischen den beiden ungleichen Nachbarn, etwas auf dem Meer treiben. Aber auch mit dem Fernglas können wir nicht genau ausmachen, was es ist. Unser erster Gedanke: Flüchtlinge!
Aber wir können keine Menschen erkennen. Ich vermute, es könnte auch ein großer Plastiksack voller Müll sein, der von einem Containerschiff geworfen wurde. Leider gibt es solche Drecksäcke immer noch. Im Gegenlicht schimmert das Treibgut schwarz.
„Was machen wir eigentlich, wenn es Flüchtlinge sind?“, frage ich meine Freundin. Wir sind uns einig, dass wir schauen müssen, ob jemand in Gefahr ist. Und sollte dem so sein, Hilfe rufen und in der Nähe bleiben, aber definitiv niemanden an Bord nehmen. „Aber was ist, wenn die wohlauf sind, das Boot in Ordnung ist und sie weiter Richtung Rhodos wollen? Die See ist doch ruhig!“, sage ich.
Meine Freundin sieht das anders: „Wir rufen auf jeden Fall die Küstenwache.“ „Und spielen damit Schicksal und verbauen denen damit ihre Chance, nach Rhodos zu kommen?“, entgegne ich. „Und was ist, wenn das Boot in zwei Stunden sinkt?“, pariert meine Freundin. Das Argument sticht.
An Bord regt sich nichts und niemand
Je mehr wir uns dem treibenden Objekt nähern, um so sicherer sind wir, dass sich an Bord nichts und niemand regt. Aber auch, dass es viel zu groß für einen Müllsack ist. Es handelt sich wirklich um ein Boot, das gekentert ist. Wie ein Mahnmal leuchtet in der Sonne der knallrote Schwimmflügel. An der Seite ist ein billiger Badereifen befestigt, in dem sonst Kinder im seichten Wasser planschen. Zwei einfache Bretter in Form von Paddeln liegen ebenfalls noch auf dem Boot.