Seit Montag wird die Hochseeregatta-Szene von einer neuen Affäre erschüttert. Die französische Tageszeitung Le Télégramme äußerte den Verdacht, dass Clarisse Crémer während der letzten Vendée Globe von ihrem Lebensgefährten Tanguy Le Turquais regelwidrige Routing-Hilfe bekommen habe. Unser französisches Partnermagazin Tip & Shaft hat die Hintergründe recherchiert.
Am 12. Februar 2024 enthüllte Le Télégramme, dass Jean-Luc Denéchau, der Präsident des französischen Segelverbands, darum gebeten habe, einem Verdacht auf Routing während der letzten Vendée Globe nachzugehen. Denéchau bestätigte gegenüber Tip & Shaft: „Ich habe am Sonntagnachmittag eine anonyme E-Mail erhalten, die einen Skipper der letzten Vendée Globe betrifft, bei dem ein Verdacht auf Routing besteht.“
Und weiter: „In Anwendung von Regel 69 der Racing Rules of Sailing (RRS) habe ich den Präsidenten des Wettfahrtkomitees und die Organisatoren der letzten Vendée Globe gebeten, eine neue Wettfahrtkommission zu ernennen. Diese Kommission wird die verschiedenen beteiligten Parteien anhören und gegebenenfalls einen Bericht verfassen. Wir werden dann über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens entscheiden.“
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Die anonyme E-Mail wurde auch an mehrere Medien und Segler geschickt. Sie enthielt Fotos von WhatsApp-Gesprächen während der letzten Vendée Globe, die vom Bordtelefon der Imoca Banque Populaire X zwischen der Skipperin Clarisse Crémer und ihrem Partner Tanguy Le Turquais aufgenommen wurden.
Was sieht man?
Tip & Shaft hatte Zugang zu den Screenshots, insbesondere vom 12. November, 20., 25. und 27. Dezember 2020, dem 9. Januar 2021 und den letzten Tagen des Rennens. Der Austausch enthält mehrere Hinweise auf die Wettersituation, darunter die folgende Nachricht von Tanguy Le Turquais am 27. Dezember, ergänzt durch ein Foto einer Route zum Kap Hoorn: „Ist es realistisch oder gar nicht? Pass gut auf dein Boot auf, mein kleines Seidenäffchen.“ Oder, am 31. Januar 2021 um 19:51 Uhr, die Frage von Clarisse Crémer, einige Tage vor dem Ziel: „Was hältst du von diesem kleinen Tiefdruckgebiet am Mittwochmorgen?“

Handelt es sich um ein Wetter-Routing, das in der Ausschreibung der Vendée Globe 2020 verboten und in Artikel 4.3.1 definiert ist? Für mehrere Skipper, die an der Regatta teilgenommen haben und mit denen Tip & Shaft Kontakt aufnahm, lautet die Antwort: Ja. Sie wollen aber lieber anonym bleiben. „Wenn es Screenshots [der Navigationssoftware] Adrena sind, sehe ich nicht, was es anderes als Routing sein könnte“, sagt ein Segler. „Ich habe ein paar Screenshots gesehen, und ich habe keinen Zweifel daran, dass es verboten ist“, kommentierte ein anderer.
Der Kommentar anderer, eine solche Konversation sei alltäglich, wies er empört zurück. „Wir durften noch nie sagen: ‚Seid vorsichtig, morgen ist Nordwestwind‘ oder ‚Beeilt euch, das Tief kommt‘. Das weiß jeder. Wir dürfen dir nicht einmal sagen, wie das Wetter in Brest ist, wenn du in den südlichen Meeren bist. Wenn deine Frau dir sagt: ‚Es ist ein blauer Tag‘, dann ist das schon zu viel. Es ist verboten, über das Wetter zu sprechen!“
Nicht vorverurteilen!
Der zweifache Gewinner der Vendée Globe, Michel Desjoyeaux, behauptet zwar, dass „es bereits ähnliche Fälle gegeben hat, die nicht bekannt gegeben wurden, insbesondere bei der Vendée Globe 1996, das ist sicher. Aber ich werde keine Namen oder meine Quellen nennen.“ Er sagt aber: „Bei meiner Vendée Globe 2000 waren mein Pressesprecher und ich sehr vorsichtig in Bezug auf die Art und Weise, wie er mir Fragen stellte. Er fragte mich nie, was mit dem kommenden Tief passieren würde, er fragte mich nur nach dem Wetter. Vor dem Start erklärt jeder Skipper ehrenwörtlich, dass die Familie, das Team an Land und die Sponsoren über das No-Routing-Gebot informiert wurden.“

Der Teammanager von Sam Davies Projekt Initiatives Cœur, David Sineau, erklärt: „Für mich ist die Grenze ganz klar. Ich spreche mit Sam nie über die Route, das Wetter oder den Wettbewerb. Selbst als sie eine Panne hatte, habe ich nicht zu ihr gesagt: ‚Du hast ein paar leichte Winde. Es ist okay, Du kannst es bis Südafrika schaffen‘, denn sie war immer noch im Rennen. Für mich verläuft die Linie sehr klar.“
Wurde diese Linie von Clarisse Crémer und ihrem Partner übertreten? Der Rennleiter des letzten Vendée Globe (und Mitglied der Rennleitung für 2024), Jacques Caraës, war „fassungslos“ über den anonymen Vorwurf. Er äußerte sich zurückhaltend: „Das Wenige, was ich gesehen habe, ein Adrena-Track mit dazugehörigen Kommentaren, ist für mich nicht das, worum es bei einer Vorteilserschleichung geht. Ich wäre ein bisschen enttäuscht, wenn dadurch die Karriere einer Sportlerin den Bach runter gehen würde. Vor allem finde ich es ein bisschen ungerecht, dass der Stab schon gebrochen wird, bevor wir die Expertenmeinung der Jury bekommen.“
Möglicherweise naiv
Von Tip & Shaft kontaktiert, verwiesen Clarisse Crémer und Tanguy Le Turquais auf ihren Kommentar in ihren jeweiligen sozialen Netzwerken: „Während unseres Austauschs, bei dem es im Wesentlichen um die Intimität eines Paares geht, gibt mir Tanguy nie die geringste Information, die ich nicht bereits habe“, schrieb Clarisse Crémer. „Kein Gespräch mit ihm hat jemals dazu beigetragen, dass ich den Kurs geändert oder eine strategische Entscheidung getroffen habe, die sich auf mein Rennen ausgewirkt hätte. Alle meine Entscheidungen habe ich immer alleine und ohne Hilfe getroffen, entsprechend den Regeln.“