Alle wollen aufs Wasser, denn auch im Corona-Jahr Nummer 2, sprich 2021, gilt: Im Boot geht Abstand halten und Urlaub machen besser als irgendwo sonst – von Wäldern, öffentlichen Parks und dem heimischen Garten abgesehen. Der aktuelle Boom auf Boote hat Folgen: Mitunter sind die Wartezeiten für die neuen Eigner länger als erwartet. Lange Lieferzeiten haben ihre Ursache nicht nur in der großen Nachfrage.
Auch der „Bullwhip-Effekt“ in den weltweiten Lieferketten und die geringe Einkaufsmacht der Bootsindustrie gehen aufs Produktionstempo. Der Ausdruck, zu deutsch „Peitscheneffekt“, bezeichnet das Phänomen, dass eine hohe Nachfrage sich immer weiter „aufschaukelt“. Vom Kunden über den Produzenten bis zum Hersteller von Bauteilen vergrößert sich der Bedarf zum Ursprung der Lieferkette hin.
Da jedes Boot die Summe seiner Bauteile ist, müssen alle Elemente – von der Klampe über die Motorsteuerung bis zur Navigationselektronik – für die Montage vor Ort verfügbar sein. Ein quergeschlagenes Containerschiff im Nadelöhr Suezkanal, das die Transportwege zwischen Ost und West blockiert, und der Brand in einer japanischen Chip-Fabrik, die spezialisiert ist auf die Zulieferung von Fahrzeugbauern – das sind nur die jüngsten Beispiele dafür, dass alles mit allem zusammenhängt.

Seit 2020 sind durch Lockdowns und Lieferengpässe in der Weltwirtschaft die Lieferketten unter Druck geraten (wir haben berichtet). Wir sprachen dazu mit Sebastian Kummer, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien und Vorstand am dortigen Institut für Transportwirtschaft und Logistik. Der Segler, Lesern von float durch seine wochenlange Corona-Odyssee im Mittelmeer bekannt, beschäftigt sich intensiv wissenschaftlich mit den Lieferketten, den „Supply Chains“.
„Die Krise ist anders als 2008“
Zurzeit ist aus der Bootsbranche und von Zulieferern zu hören, dass die Produktion mitunter stockt. Es heißt: Die Lieferketten funktionieren nicht. Was genau ist hier los? Wie funktioniert die weltweite Produktion und was hat Logistik damit zu tun?
Sebastian Kummer: Die weltweiten Produktionsketten sind naturgemäß intensiv vernetzt. Bootshersteller sind heute in Teilbereichen „Zusammenbauer“. Sie kaufen viele Teile entsprechend zu. Die Weltwirtschaft ist sehr arbeitsteilig: Ein Großteil der Produktion, insbesondere der Elektronik, kommt heute aus Asien.
Im Gegensatz zur Krise von 2008, als einfach die Nachfrage zurückgegangen war, aber eigentlich alles verfügbar blieb, boomen in dieser Krise einzelne Bereiche wie das private Bootsfahren oder Segeln. Hier gehen die Menschen hinein, weil der Lockdown sie dazu zwingt oder sie Angst vor Covid 19 haben.

Doch nicht nur die Nachfrage nach Booten steigt, sondern auch nach einzelnen Komponenten, weil Bootseigner sich verstärkt um Refits und Modernisierungen kümmern. Wir haben also auf der Nachfrageseite einen großen Boom.
Aber das ist doch ideal für die Konjunktur …
Wir haben das Problem, dass bei vielen Unternehmen die Produktion unter Covid-Bedingungen stattfindet. Obwohl die Werften einen tollen Job gemacht haben, bekommt man unter Corona-Bedingungen einfach nicht den gleichen Output an Booten hin wie zu Nicht-Corona-Bedingungen. Eine größere Nachfrage trifft also auf eine kleinere Fähigkeit, die Boote zu produzieren.
Elektronikbausteine sind wahnsinnig gefragt.
Jetzt kommt die Lieferkette hinzu: Hier werden wir von zwei Seiten gestört. Erstens herrscht im Elektronikbereich eine große Nachfrage, und zwar nicht nur Boots-Elektronik. Insbesondere Heimelektronik und alles, was mit dem Homeoffice zusammenhängt, ist auch stark nachgefragt. Gleichzeitig kamen die neue Playstation 5 und eine neue Xbox – Elektronikbausteine sind also wahnsinnig gefragt.
Und weltweit berichten alle Hersteller, die Elektronikbausteine brauchen, über Nachfrageengpässe. Jetzt tritt der Bullwhip-Effekt in den Lieferketten ein. Alle sehen, dass Mikrochips, Halbleiter und Elektronikbausteine gefragt sind, und sie bestellen mehr. So wird der Engpass noch stärker.
Wie ist das internationale Zusammenspiel bei der Produktion von Elektronik? Wo wird diese Elektronik hergestellt, die dann als Bauteil in einem europäischen oder US-amerikanischen Produkt steckt? Kommt das wirklich alles aus Fernost?
Nicht alles. Es gibt natürlich auch in Europa und in Amerika einige Hersteller. Chiphersteller wie Infineon haben sogar im österreichischen Klagenfurt eine große Produktion. Aber von der hohen Nachfrage betroffen sind ja alle, und da ist ja der Standort erst mal nicht entscheidend.

Warum weiten die Hersteller ihre Produktion nicht einfach aus?
Sie haben natürlich das Problem, dass sie wegen Covid19 weniger produzieren können. Insbesondere die Halbleiterfabriken laufen jetzt schon an 365 Tagen 24 Stunden am Tag. Eine neue Chip-Fabrik der neuesten Generation kostet einen zweistelligen Milliardenbetrag. Hier sind extrem hohe Investitionen erforderlich.
Ist eine wirtschaftliche Schwäche des Westens offenbar geworden beim Reißen der Lieferketten? Wer ist hier der Gewinner? China?
Die Chiphersteller, Halbleiterhersteller und Produzenten aller möglichen Elektronikbausteine planen zwar Investitionen. Doch es gibt weltweit nur ganz wenige Hersteller, die überhaupt die Technologie Chipproduktion bereitstellen können. Die Hersteller können die Menge bei Elektronik-Bausteinen kurzfristig fast überhaupt nicht und mittelfristig nur sehr schlecht erhöhen.
Außerdem gibt es natürlich hier ein sehr straffes Oligopol relativ weniger Hersteller, da die Investitionen so hoch sind. Der weltweit größte Chiphersteller kommt übrigens aus Taiwan, nicht aus Festland-China.
Ist nicht auch die Entfernung zwischen Produktionsstandort von Elektronik und den Werften in Europa eine Herausforderung?
Wir haben im Augenblick zusätzlich zur hohen Nachfrage und einer Produktionskapazität, die sich nicht schnell steigern lässt, die Transportproblematik. Bei den internationalen Transporten kommt es im Augenblick zu starken Engpässen. Die Reedereien haben sich nicht darauf eingestellt, dass sie so eine große Nachfrage haben würden.

2008, bei der letzten Weltwirtschaftskrise, hatten die Reedereien Riesenprobleme und deshalb ihre Schiffskapazitäten gesenkt. Dazu, dass die Schiffskapazitäten nicht so hoch sind, kommt jetzt, dass es weltweit viel zu wenig Container gibt.
Es gab Nachrichtenbilder von Containerschiffen, die vor der US-Westküste liegen und nicht entladen werden. Woher kommt das?
Viel Ware bleibt stehen, weil die Container nicht da sind, wo sie gebraucht werden. Am Beginn der Krise hatte China einen ganz strikten Lockdown im Januar, Februar und März 2020. Es wurde nicht produziert und dadurch wurden auch keine Container verschifft. Denn die Schiffscontainer zirkulieren nur, wenn es Ware gibt. Es gab also einen gewissen Stau.
Es sind keine Container in Europa angekommen und auch keine von Europa wieder zurück nach Asien gegangen. Als die Chinesen Covid19 in den Griff bekommen haben, haben sie wieder angefangen zu produzieren und auch zu verschiffen. So sind die Container nach Europa und nach Amerika gekommen.
Auf einmal gab es keine Container mehr.
Aber weil die Krise dann in den USA und in Europa so stark war, sind diese Container aus verschiedenen Gründen nicht so schnell oder überhaupt nicht abgefertigt worden.