„Vor 22 Jahren trafen sich vier Menschen in Berlin, um die Gründung einer Zeitschrift zu besprechen, die das Meer zum Gegenstand haben sollte: der Meeresbiologe Nikolaus Gelpke, die Architektin Zora del Buono, die Fotografin Barbara Stauss und die Artdirektorin Claudia Bock. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung von Medien und nur Gelpke eine vom Meer.“ So beginnt das Vorwort des schön gestalteten Bildbands von mare, herausgegeben zum 20-jährigen Jubiläum des Meeres-Magazins mare.
mare ist deutschsprachige Magazin-Kultur at its best und hat die Magazin-Szene wesentlich beeinflusst. Das klare, zurückgenommene Layout war wegweisend, die Bildsprache oft ikonisch, die Texte Literatur.



Das war absolut neu Ende der Neunziger Jahre. Die große Zeit der Magazine wie Life war lange vorbei, und für Fotografen, die künstlerisch arbeiten wollten, gab es kaum Titel, in denen sie ihre Bilder veröffentlichen konnten. Eine Geschichte bei mare im Heft zu haben war der Traum für viele Fotografinnen und Autoren, die Reportagen im Stil der Fotoagentur Magnum fotografierten. Es war eine Auszeichnung, im Blatt zu sein. Bis heute.

Kerstin Zillmer, selbst Fotografin, im Gespräch mit Nikolaus Gelpke, dem Gründer und Chefredakteur, über die Rolle der Fotografie in mare.
float: Herr Gelpke, welche Bedeutung hat das Meer für Sie?
Nikolaus Gelpke: Als ich anfing mit mare, war ich vor allem Meeresbiologe. Inzwischen betrachte ich das Meer sehr viel journalistischer – als Medium, um einen anderen Blickwinkel auf Geschichten zu finden. Man kann eine Geschichte ja vom Land oder vom Meer her erzählen. Das Spannende ist die Perspektive.
Ist die Meeres-Perspektive so viel anders?
Aber ja! Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ein Jahr nach 9/11 haben wir in mare einen Themenschwerpunkt New York gemacht und uns gefragt: Wie können wir den Anschlag integrieren? Wir haben natürlich auch über die Port Authority recherchiert. Die ist in den letzten 100 Jahren unglaublich gewachsen, weil über Ellis Island um die 30 Millionen Menschen eingewandert sind. Der Hafengesell-
schaft gehören inzwischen alle drei Flughäfen von NYC, ihnen gehört jede Brücke und jede Fähre nach Manhattan sowie der zentrale Busbahnhof und auch alle Busse. Um ihre Macht zu zeigen, bauten sie ein Wahrzeichen, das man vom Meer aus sehen kann: Das World Trade Center. Die Zwillingstürme waren also gleichzeitig auch das Wahrzeichen der Einwanderer.
Der Anschlag auf New York war demnach weit mehr als ein Attentat auf die Macht und das Geld – nämlich ein Anschlag auf die Einwanderer und die Religionsfreiheit. Wir haben das nur herausgefunden, weil wir uns dem Thema ganz anders genähert haben: Aus der Meeres-Perspektive. Und weil wir mit dieser Perspektive auf unsere Themen schauen, haben wir auch herausgefunden, wo all die Opfer, die nicht identifiziert wurden, begraben wurden: auf Hart Island. Das ist eine sehr bewegende Geschichte.
Manche Leser sagen, politische Themen kommen bei mare zu wenig vor.
Das höre ich nicht zum ersten Mal, und ich widerspreche den Lesern komplett. Wenn Sie sich unseren Bildband zum 20. Geburtstag ansehen, stellen Sie fest, dass wir schon 10 Jahre vor allen anderen riesige Flüchtlingsgeschichten über das Mittelmeer gemacht haben. Über die Problematik von Frontex haben wir 2013 als eines der ersten Magazine in Deutschland berichtet. Und wir haben nicht nur über Flüchtlinge im Mittelmeer, sondern auch in Somalia und im Jemen geschrieben.
Wie kein anderes Magazin haben wir Seerechtsgeschichten veröffentlicht. Wir haben zu diesen Themen immer große Bildstrecken gemacht. Aber wenn es politisch wird, erwarten die Leute keine künstlerische Fotografie. Wenn es ums Elend geht, soll die Fotografie auch elendig sein. In den Favelas wird farbig fotografiert und abgeblitzt, in Afrika werden die Leute „abgeschossen“. Dass man in Afrika wunderschöne Fotos von den Leuten mit gutem Licht in schwarz/weiß machen kann, sieht man doch in den Bildern von Sebastião Salgado.
Wenn man sich all unsere Ausgaben anschaut, sieht man: Wir waren immer politisch, sozial und kulturell, auch wenn das mitunter nicht so wahrgenommen wurde.
mare steht für eine neue Epoche von Magazinen. Welche Rolle spielt mare für Sie unter den deutschen Magazinen?
Erstmal vorweg: Wir haben aus unserer Sicht nichts Neues gemacht, wir haben nur genau das gemacht, was wir machen wollten. Ich bin Sohn einer Fotografin, Meine Mutter hat für DU fotografiert. Der Vater unserer Mitgründerin und Bildredakteurin Barbara Stauss ist auch Fotograf. Wir sind mit der klassischen Magnum-Fotografie groß geworden – einer Fotografie, in der man Bilder nicht beschneidet, spiegelt oder sonst wie manipuliert. Wir wollten auch nicht, wie damals üblich, Text in die Bilder setzen, sondern ihnen viel Raum zum Wirken lassen.
Wie nähern Sie sich den Themen bei mare?
Seit 20 Jahren setzen Barbara Stauss und ich uns bei jeder Geschichte zusammen und fragen uns: Was machen wir? Farbe oder schwarz-weiß? Was braucht die Geschichte? Reduktion, Konzentration, Klein-, Mittel-, oder Großformat? Schnelle oder langsame Fotografie? Muss es ein Mann oder eine Frau sein?
So grenzen wir die Bildsprache für das Thema ein, und so finden wir die Fotografen, die die Geschichte fotografieren können. Dieses Vorgehen ist mir ganz wichtig: Den Trends sind wir nie hinterhergelaufen. Wir gehen immer vom Inhalt aus, auch beim Layout. Das konnten wir nur machen, weil wir unabhängig und klein waren. Und so machen wir es bis heute, seit 20 Jahren.


Wie hat sich mare in den letzten zwei Jahrzehnten verändert?
Wir arbeiten eigentlich genau wie am Anfang, konzentriert von der Geschichte aus gedacht. Unsere Themen sind ja sehr zeitlos. Aber natürlich verändert sich etwas. Wir belichten keine Platten mehr, der Herstellungsprozess ist anders geworden. Dazu kommt die digitale Fotografie. Wir arbeiten übrigens auch weiterhin mit Fotografen zusammen, die analog und komplett auf Papier arbeiten.
Mich interessiert Fotografie als Medium, um eine Geschichte zu erzählen. Wir machen ja kein Kunst-, sondern ein Reportage-Magazin. Wir erzählen Geschichten in Texten und Bildern. Auch bei einer Porträtserie fragen wir uns: Welche Fotografie braucht die Darstellung dieser Menschen, die wir porträtieren, und wir überlegen, welcher Fotograf oder welche Fotografin das umsetzen kann.
Gibt es in den 121 Ausgaben eine Geschichte, von der Sie sagen, das ist eine besonders geglückte Geschichte?
Das ist eine schwere Frage. Da ist die Geschichte über den Bau des U-Boots von Herrn Pilipenko. Das ist die Geschichte von einem Bauern in Kasachstan, der seit 30 Jahren ein U-Boot gebaut hat. Die Fotografien und die Geschichte über diesen Mann zu erzählen, der in der kompletten Walachei weit weg vom Wasser über drei Jahrzehnte dieses U-Boot baut, war unfassbar romantisch und schön. Und sie ist genauso geworden, wie wir es gedacht hatten.

Eine andere Geschichte, die ich absolut geglückt finde, ist die über Hafenmädchen in Brasilien. Erstens wollten wir eine Fotografin haben, weil wir keine männliche Sichtweise auf die Frauen wollten. Zweitens wollten wir 6×6-Fotografie, weil die Fotos viel klassischer werden, drittens wollten wir schwarz-weiß haben, um nicht diese abgeblitzte Dritte-Welt-Prostitutionsfotografie zu erzeugen. Deshalb haben wir Bastienne Schmidt beauftragt und sie hat das genau so umgesetzt, wie wir es uns vorgestellt hatten. Die Frauen sind zwar sexy, aber sie sind immer Frauen mit ihrer Würde und nie rein als Prostituierte.
Das sind magische Momente, wenn eine Geschichte so wird, wie du sie dir vorgestellt hast.
Sucht die Redaktion die Geschichten immer selbst, oder nehmen Sie auch Themen, die Ihnen angeboten werden?
Am liebsten denken wir uns unsere Geschichten selbst aus. So können wir selbst bestimmen, wer schreibt, fotografiert und wie und wann sie umgesetzt werden. Das gesamte Procedere haben wir dann in der Hand. Das ist das, was ich am meisten liebe und was am besten funktioniert.
Manchmal bietet ein Autor eine Geschichte an und dann suchen dazu einen Fotografen. Manchmal ist es auch ein Fotograf, der eine Story hat, die ich gerne machen würde, und wir suchen einen Autor dazu. Aber es ist nicht so einfach, dass es genau passt. Was eher selten passiert ist, dass wir fertige Fotogeschichten angeboten bekommen. Damit wir dann einen Autor noch einmal losschicken, müssen die Bilder unfassbar gut, einmalig oder nicht wiederholbar sein. Das passiert aber relativ selten.
Wie wichtig ist für Sie der Umgang mit den Fotografen?
Der Umgang ist mir wahnsinnig wichtig. Als Kinder von Fotografen versuchen wir immer, möglichst optimale Bedingungen für sie zu stellen. Das fängt beim Vertrag an, den ich in Absprache mit Freelens gemacht habe. Mir ist es für die Qualität der Geschichte wichtig, dass die Fotografen Zeit haben vor Ort. Ich spare lieber am Honorar als an den Spesen.