Die Wanten fest umklammert
Die panischen Schreie vom Vorschiff gingen in dem prasselnden Regen beinahe unter. Aber als ich den Kopf wieder vom Cockpitboden in Fahrtrichtung regte, sah ich meine beiden Freunde flach auf dem Deck liegen, die Wanten fest umklammert, während in meinem Augenwinkel die Heckpfähle an mir vorbeirasten. Unnötig festzustellen, dass die Festmacher noch an Bord waren.
Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es vor oder nach dem Aufprall auf dem Steg war, als ich realisierte, dass ich Vor- und Rückwärtsgang verwechselt hatte. Jedenfalls hämmerte es ordentlich, so heftig, dass selbst einige Stegnachbarn trotz der Sturzbäche vom Himmel die Luken öffneten und mit großen Fragezeichen im Gesicht zu uns herüber schauten. Wir winkten freundlich zurück. „Alles okay?“, fragte eine besorgte Stimme aus dem Niedergang zwei Boote weiter. Wir nickten. Dann verschwand der bärtige Mann wieder im Trockenen, nicht ohne noch einmal den Daumen in die Luft zu recken.
Als wir das Boot vertäut hatten, begutachteten wir den Schaden. Der Sturm hatte zum Glück sehr viel Wasser aus dem Hafen gedrückt, weshalb wir nicht mit dem Rumpf gegen den Steg gebrettert sind, sondern mit dem Bugkorb. Die neue Form erinnerte ein bisschen an Art déco. Hatte was! Vor allem das Potenzial für einen Haufen Ärger. Die ehemals straff gespannte Reling sah aus wie eine ausgeleierte Wäscheleine, die der Last unendlich vieler Kilometer mit Weißer Riese gewaschener Klamotten nachgegeben hatte.
Aber weder der Steg war zu Schaden gekommen, noch ein fremdes Boot und auch kein Mensch. In Anbetracht der Umstände kein schlechtes Ergebnis, wie wir fanden. Mein Vater sah das freilich anders. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich die Geschichte des krummen Bugkorbs am Telefon meinen Eltern verkaufte, ich kann mir aber vorstellen, dass ich die Details der vorherigen Nacht vergessen hatte zu erwähnen. Die Version war jedenfalls gut genug, um kein Segelverbot erteilt zu bekommen. Das folgte erst ein Jahr später. Aber das ist eine andere Geschichte.
Fehler sind die besten Lehrmeister
Die Anekdote ereignete sich, wie bereits erwähnt, Anfang der 90er Jahre. Seit knapp 30 Jahren lachen wir darüber. Sie war teuer, aber lehrreich. Ich verlasse keinen Hafen mehr, ohne auf den Wetterbericht zu schauen. Ich wäge Risiken besser ab (Keile gegen Kiel oben). Ich steuere in Häfen nicht sofort hektisch den erstbesten Liegeplatz an, und das auch noch viel zu schnell, ohne zuvor die Bedingungen zu checken.
Den Unterschied zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgang habe ich mittlerweile gelernt. Jeder Fehler, den ich im Laufe der Jahre auf dem Boot gemacht habe, und es waren nicht gerade wenige, war wichtig. Denn Fehler sind nun mal der beste Lehrmeister. Man könnte Fehler auch mit Erfahrung gleichsetzen. Ich würde behaupten, niemand geht an Bord und segelt fehlerfrei.
Da Segeln jeden Tag eine neue Herausforderung darstellt, weil die Bedingungen ständig wechseln, braucht es Erfahrung und eben Fehler, um zu lernen. Und Menschen, die helfen und bereit sind zu erklären. Auf Augenhöhe und nicht vom hohen Ross. Und wo sollte es mehr verständnisvolle Menschen als in Häfen geben? Sie alle teilen die Liebe zum Wasser, loben die Freiheit auf dem Meer und predigen Begriffe wie „gute Seemannschaft“, deren Grundwerte Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft sind. Die Realität sieht mittlerweile anders aus. Nicht überall und schon gar nicht immer, aber gefühlt immer öfter.

Angenommen, die obige Anekdote wäre dieses Jahr passiert: Was wäre anders? Wahrscheinlich wäre mindestens ein Smartphone auf uns gerichtet gewesen. Noch bevor das Boot vertäut gewesen wäre, wäre unser verkorkstes Manöver irgendwo bei Facebook, Instagram oder Youtube gelandet, untermalt mit hämischen Kommentaren des Amateurfilmers, der natürlich nicht helfen konnte, denn dann hätte er ja nicht mehr filmen können. Wir hätten es locker auf 10.000 Klicks, vielleicht sogar 100.000, gebracht – und, ganz bescheiden, auf locker 123 Kommentare.
Viral am Elend anderer ergötzen
Videos mit den Missgeschicken anderer Segler und Wassersportler gehen heutzutage viral. Wer Youtube oder Facebook mit den Begriffen „Hafenkino“ oder „boat fail“ füttert, kann sich stunden-, wenn nicht tagelang, an dem Elend anderer ergötzen. Nicht selten werden die Filmchen millionenfach geklickt.
Das Hafenkino ist längst in den Wohnzimmern angekommen und erreicht damit die Nörgler und die Besserwisser, die Schadenfrohen und, am schlimmsten, die Sofakapitäne, die sich auch bei einer Fußballweltmeisterschaft für den besseren Bundestrainer halten. Ich bin mir relativ sicher, dass die Schnittmenge mit den Gaffern nach einem Unfall auf der Autobahn relativ groß ist.
Die beliebte Einleitung für Kommentare zu Themen wie Flüchtlinge oder – noch polarisierender – „Greta“ beginnt im Netz oft mit den Worten „Ich bin ja kein Nazi, aber man wird ja noch sagen dürfen…“. Beim Hafenkino lautet sie leicht abgewandelt: „Ich war ja nicht dabei, aber…“. Und dann wird erst das Fass voller Fiesheiten aufgemacht und anschließend die ganze Häme ins Netz gekübelt.
Wohlgemeinte und gute Tipps, wie die Misere im mp4-Format hätte abgewendet werden können, um aus den Missgeschicken anderer zu lernen, sind leider die Seltenheit. Vielmehr geht es darum, den anderen zu beweisen, dass man selbst der größte und beste Segler ist, mit Salzwasser im Blut und tausenden Meilen auf dem Buckel. Zumindest in der Selbstwahrnehmung. Und so bleibt es oft bei primitiven Pöbeleien: „So ein Vollpfosten!“ „Wassercamper!“ „Wie kann man nur so blöd sein!“ „Wenn sich so einer neben mich legen will, kriegt der gleich auf die Fresse.“

Die eingebildeten Nachkommen von Kapitän Nelson
Wenn mir extrem langweilig ist, dann lese ich die Kommentare zum gestreamten Hafenkino-Kino. Interessanterweise tragen die gehässigsten Kommentatoren auch auf ihren Profilfotos Segelklamotten oder stehen stolz hinter einem großen Steuerrad, als wären sie ein direkter Nachkomme von Admiral Nelson. Noch ein Schlückchen aus der Pulle und dann hauen sie ihren Hass in die Tasten.
Am Computer können sie endlich der sein, den andere in ihnen nie sehen werden: der Bessersegler.
Das wirklich Schlimme aber ist, auch in den Häfen verkommt das Hafenkino immer mehr zum Gaffertum. Natürlich sind manche Szenen so atemberaubend skurril, dass man gar nicht anders kann, als hinzuschauen, besonders wenn geballtes Testosteron am Steuer steht. Dennoch erschließt es sich mir nicht, warum man statt zu Leine oder Fender zum Handy greift und auf den größtmöglichen Schaden wartet.
4 Kommentare
Ja, großartig: auf den Punkt und nicht hasserfüllt anklagend. Die Gaffer werden sich leider nie schämen, aber lernen kann man aus einigen Filmchen schon etwas. Lampenfieber beim Anlegen mag ich auch nicht – habe immer versucht, alles nicht Notwendige zu ignorieren. Ich bin auch immer unschlüssig, ob ich fremde Hilfe von Land annehmen soll: ich kenne den Menschen nicht und weiß nicht was er drauf hat…..muss ich als Skipper von Mal zu Mal entscheiden. Danke Jens!
Einige der geschilderten Vorfälle erfüllen durchaus den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung und können strafrechtlich relevant sein! Wer Zeit für Videoaufnahmen hat, hat auch Zeit zumindest zu warnen, wenn nicht gar zu helfen.
Ich bin als Anfängerkapitän vorne mit dabei und habe meist die Hauptrolle im neusten Blockbuster des örtlichen Hafenkinos.
Meiner Meinung nach gibt es viel zuwenige “Docking Fails” auf Youtube, denn davon kann ich sehr viel lernen 😉
Die Sofakapitäne bekommen im Kommentarbereich aber auch einiges an Kontra von vernünftigen Seglern. Witzig ist immer, wenn in der Mitte der Diskussion der im Film nicht sichtbare Kontext den vermeintlichen Fehler relativiert. Z.B. kann wegen fehlender Tiefe nicht mit Heck an die Hafenmauer, Antriebsprobleme, im Video nicht sichtbare Strömmung, …
Top Artikel! Du sprichst mir aus der Seele!
Und auch ich habe schon “lustiges” (je nach Sichtweise) Hafenkino geliefert… Zum Glück auch ohne filmische Beweise; zumindest habe ich sie noch nicht gefunden 😉