Im Juni fliegt ein Social-Media-Post von Svenja Neumann an mir vorbei: „Mitte August skippere ich eine Frauencrew auf der Varianta 37 der Yachtschule Eichler. Mit Tide, Nachtfahrt und stop-over in Glückstadt und Cuxhaven geht’s nach Helgoland.“
Da ist er, denke ich. Mein erster Offshore-Segeltörn und das mit Svenja Neumann als Skipperin. Ich kenne Svenja, seit wir ihr Buch Ærødynamisch vorgestellt haben, in dem sie mit viel Sprachwitz und Selbstironie von ihren Einhand-Segelerfahrungen in der dänischen Südsee als Anfängerin im Jahr 2015 schreibt. Seitdem ist einiges Wasser die Elbe rauf und runter geflossen, Svenja hat sich den Sporthochseeschifferschein ersegelt und arbeitet inzwischen als festangestellte Skipperin bei Eichler. Spontan schreibe ich sie an und buche. Es wird unser erster gemeinsamer Törn.

Salz geleckt
Innerlich habe ich schon lange Salz geleckt. Mich begeistern Weltumsegelungen. Es begann mit dem Golden Globe Race. Bei der Vendée Globe fieberte ich mit, hing bis spät in die Nacht am Tracker, schrieb früh morgens über die neuesten Ereignisse. Auch ich will raus auf die Ozeane! Und nun also Helgoland, die einzige deutsche „Hochseeinsel“, auch wenn das nicht ganz richtig ist. Ich packe Ölzeug und Gummistiefel in meinen Seesack, die lange Unterhose bleibt im Schrank, es ist schließlich August!
Sonntags empfängt mich Hamburg unter strahlendem Himmel. Windfinder und Windy sagen für unseren Törn in den nächsten Tagen allerdings ordentlich Wetter voraus. Ich frage unseren Meteorologen Sebastian Wache von der Wetterwelt. Er schreibt: „Bei dem Wind? Respekt!“ O.k., denke ich und vertraue auf Svenja.
Montag früh, die Sonne spendiert noch ein paar warme Strahlen, treffen wir uns in Hamburg-Finkenwerder am Steg. Wir segeln zu sechst auf der „Elbe Express“, einer Dehler Varianta 37, dem kleinsten und sportlichsten Schiff der Yachtschule Eichler, die vor den beiden größeren GibSea-43-Schwesterschiffen „Helgoland Express“ und „Hamburg Express“ im Schwell der Hafenfähren am Steg schaukelt. Alle drei Boote starten regelmäßig zu Seetörns in Richtung Helgoland oder sind zur Führerscheinausbildung auf der Unterelbe unterwegs.
Ein wandelndes Segellexikon
Als ich ankomme, sind wir komplett: Katja und Agnes aus Hamburg, Anne aus Oldenburg und Marcella aus Brasilien. Wir haben alle Segelerfahrungen. Beim Kaffee unter Deck macht Svenja die Einweisung ins Schiff und in die Sicherheit an Bord. Mit viel Wissen und Überblick erklärt sie, wo sich die Seeventile, die Gasanlage, die Dieselheizung befinden und was am Motor zu beachten ist.
Welche Schifffahrts- und Gefahrenzeichen müssen wir auf der Elbe kennen, wie bewegen sich Binnenschiffe, Frachter, Sportboote, wie sind die Vorfahrtsregeln, wie nutzen wir AIS und kommunizieren per UKW-Funk, auf welchen Kanälen? Welche Rettungsmittel haben wir an Bord? Svenja zeigt uns die Satelliten-EPIRB, Rettungsfloß, AIS-SART und weiß auf alle unsere Fragen gute Antworten. Zum Schluss rauchen uns ein bisschen die Köpfe, die Frau ist ein wandelndes Segellexikon!
Wind, Welle, Strom
Svenja zückt die „Elbe-Bibel“, den Gezeitenkalender, und breitet die Seekarte vor uns aus. Wir haben zunehmenden Mond, Nippzeit und laufen mit dem Hochwasser aus, Abfahrtszeit ist 11 Uhr. Wir segeln mit ablaufendem Wasser Richtung Elbmündung, das dauert von Hamburg bis Glückstadt, unserem ersten Stopp, etwa fünf Stunden.
Mit dem nächsten Hochwasser geht es abends gegen 22 Uhr weiter durch die Nacht nach Cuxhaven, Ankunft gegen 3 Uhr nachts, dann weiter gegen 9 Uhr morgens in die Elbmündung bis hinter den Großen Vogelsand. Von dort sind es nur noch 13 Meilen bis Helgoland. Klingt alles ganz einfach. Normalerweise.


Aber Svenja hat natürlich auch den Wetterbericht und die Windvorhersage studiert. „Wenn wir merken, es wird zu heftig, sollten wir auf der Hacke kehrt machen und besser den Kopf einziehen“, meint Svenja. Die Vorhersage für heute und morgen sagt Grundwind um die 30 kn voraus, in Böen bis 38 kn mit biestiger Welle. „Das möchte ich mit euch nachts nicht segeln“, schiebt sie hinterher.
Ob wir denn bis Helgoland kommen, wollen wir wissen. „Ihr sagt, womit ihr euch wohl fühlt. Ich schaue mir das an und fahre ich mit euch dorthin, wo ich es für alle verantworten kann.“ Wir träumen weiter von Helgoland und machen das Boot klar. Große Fock runter, Sturmfock rauf, erstes Reff rein. „Die Varianta liegt schnell auf der Backe“, sagt sie.

Als wir auslaufen, ist der Himmel dunkelgrau, es regnet heftig und wird die nächsten zwei Stunden nicht mehr aufhören. Stoisch steht Anne am Ruder und blinzelt in den Regen. Wie begossene Pudel hocken wir an Deck, Katjas Ölzeug wird undicht, sie friert und geht unter Deck. Wir kreuzen mit Wind aus Nordwest im strömenden Regen im Elbefahrwasser gen Nordsee. Warum tue ich mir das an, frage ich mich heimlich.
Eine alte Kuh reiten
Als ich auf Höhe Stadersand ans Ruder gehe, lässt der Regen langsam nach, aber dafür nehmen Wind und Wellen zu, je weiter wir elbabwärts gen Mündung segeln. Auf seinem Weg nach See beschreibt der Fluss lange Kurven, hinter Wedel, vor Glückstadt, bei Brokdorf, vor und hinter Cuxhaven. Bei starken westlichen Winden legen Wind und Welle hinter jeder Kurve zu.
Svenja lässt uns das zweite Reff einbinden. Die Sonne kommt raus und das Boot zischt durch die Wellen. Der Wind drückt von West, das Wasser läuft zwar schon wieder ein, aber von ruhigem Segeln, jetzt mit Wind und Strom aus gleicher Richtung, keine Spur.

Es fühlt sich am Ruder an, als würde ich eine alte Kuh reiten. Es treibt mir das Lachen ins Gesicht. Dieses unbändige Gefühl von Freiheit, das mich jedesmal packt, wenn ich segele, da ist es wieder! Katja, die währenddessen unter Deck liegt, schildert es später als wildes Rodeo mit Klangeffekten wie von einem halben Dutzend Abrissbirnen.
Nördlich der Rhinplate biegen wir nach Glückstadt ab und Svenja manövriert das Boot in den Vorhafen an den Wartesteg vor dem Sperrwerk. Der Westwind packt den Bug der Elbe Express beim Anlegen und drückt ihn seitlich weg. Svenja muss das Boot in der engen Gasse einfangen, umplanen und einen neuen Anlauf fahren. Punktlandung! Beim Hafenschluck sind wir von ihrem Manöver schwer begeistert.
Die Crew mit Lust auf Meer
Abends besprechen wir alle möglichen Törn-Varianten: Schaffen wir es bis Cuxhaven? Oder zumindest bis Brunsbüttel? Wir checken die Gezeiten, die Wettermodelle, schreiben Sebastian an. Der empfiehlt lakonisch: „Hafentage bis Mittwoch“. Wir geben uns dennoch nicht geschlagen und wollen weitersegeln nach Brunsbüttel, vielleicht schaffen wir es ja doch nach Cux? Denn wir sind die Crew mit Lust auf Meer – wir wollen nach Helgoland!
Dienstagmorgen entscheidet Svenja: Wir bleiben in Glückstadt. Vielleicht können wir, wenn der Wind etwas abgenommen hat, am Mittwoch bis Brunsbüttel hoch segeln. Dann also Körperpflege und Shoppen beim Segelausstatter. Agnes bekommt neue Gummistiefel, drei von uns eine warme Wollmütze, Katja eine neue Regenhose und Svenja einen Südwester. Ab nachmittags kloppen wir Doppelkopf bis spät in die Nacht. Der Monkey 47 Gin, den Katja gegen die Seekrankheit mitgenommen hatte, verfehlt auch hier nicht seine Wirkung.

Mittwochmorgen hat der Wind abgenommen und wir wagen es Richtung Brunsbüttel. Zuerst schieben wir uns in die Pole Position. Wir verholen die Nachbaryacht und Elbe Express ein Stück den Steg hinunter und gewinnen so Platz, um entspannt rückwärts auszulaufen. Wieder beweist Svenja, was sie drauf hat.
Keine anderen Bekloppten unterwegs
Im Schutz der Rhinplate setzen wir das Großsegel im ersten Reff und starten erneut Richtung Elbmündung, doch schon vor der Stör – kaum 3 sm weiter – liegen wir so auf der Seite, dass wir weiter reffen. Es folgt eine furiose Am-Wind-Kreuz im breiten Elbstrom bei Wind gegen Strom. Die Sonne scheint gleißend und Wolken, Gischt und „Elbe Express“ fliegen um die Wette. Außer uns sind keine anderen Bekloppten unterwegs.
Ausgemacht war, dass wir abdrehen und mit dem Wind ablaufen, wenn Svenja es für richtig hält. Als in den Böen Wind- und Ruderdruck im zweiten Reff so heftig werden, dass „Elbe Express“ fast aus dem Kurs läuft, sagt sie, dass es besser sei umzukehren.
Ay Captain!, antworten wir, die Enttäuschung ist nicht zu überhören. Aber wir laufen nur eine kurze Strecke mit raumem Wind ab, Svenja sortiert die Aufgaben, bespricht die nächsten Schritte: drittes Reff und erneut Kurs Brunsbüttel.

Hochseesegeln vor Brokdorf
Später dann im Fahrwasser vor Brokdorf kreuzen wir bei 34 kn Wind und fast 2 m Welle. Anne ist am Steuer, ihre Augen leuchten, während sie die Wellen abreitet. Eine große Welle erwischt uns von achtern und füllt das Cockpit. Es ist ein großes Abenteuer und wir sind alle begeistert. „So habe ich die Elbe auch noch nicht erlebt. Das ist Hochseesegeln vor Brokdorf!“, meint Svenja. Das ist echt reaktiv, denke ich.
Als das Gerocke Marcella schließlich den Magen umdreht, kehren wir um nach Glückstadt und legen uns hinter der Rhinplate vor Anker. Das Ankerbier im Cockpit mit Abendsonne schmeckt vorzüglich, wir sind voll auf unsere Kosten gekommen.

Am nächsten Morgen gehen wir früh mit den Gezeiten Anker auf und segeln gemächlich zurück nach Hamburg – im Regen, natürlich. Der Windspuk immerhin hat ein Ende, wie Sebastian Wache es prophezeit hat. Wir hören den Revierfunk, weichen dem dichten Schiffsverkehr aus, üben die Bedeutung von Betonnung.
Kurz vor Hamburg schläft der Wind dann ganz ein und der gestrige Ritt kommt uns jetzt irgendwie surreal vor. Als wir wieder bei der Yachtschule Eichler an den Steg gehen, ist klar: Helgoland, wir kommen noch. Dieses Mal hatten wir unser eigenes Frauen-Offshoresegeln auf der Elbe. Nennen wir es „Helgaland“.