Die unglaubliche Geschichte beginnt im Dezember 2002. In der Nacht auf Freitag, den 13., tobt ein Sturm vor der Küste von Gran Canaria. Dort ankert Dieter Schiffer (Name von der Redaktion geändert) mit seinem Zweimaster, einer Ketsch. Der 55-Jährige ist gelernter Schiffsmotorenschlosser und ein erfahrener Segler. Er weiß von dem heranziehenden Sturm. Dennoch sucht er nicht den schützenden Hafen auf. Trank er zu viel Alkohol und war deshalb nicht mehr in der Lage, sein Schiff in Sicherheit zu bringen?
In der Sturmnacht bricht eine Ankerkette, ein weiterer Anker findet keinen Halt. Die unversicherte 40.000-Euro-Yacht wird Spielball von Wellen und Wind und zerschellt schließlich an den Klippen. Mit ihr hat der Eigner bislang seinen Lebensunterhalt verdient, hatte Tagestörns für Touristen angeboten. Nun ist er erwerbslos.
Er verkauft die Reste seines Schiffs und fliegt zu seinen Schwestern nach Berlin. Die meiden den Kontakt zu ihrem Bruder. Der sei kriminell, meinen sie und lehnen jede Hilfe ab. Paul Sternbeck (Name von der Redaktion geändert) aber, der Ex-Mann einer der beiden Schwestern, rührt das Schicksal seines einstigen Schwagers. Zwei Tage begleitet der kleine, freundlich wirkende Rentner den Schiffbrüchigen zu Ämtern und Behörden. Am Ende verfügt Dieter Schiffer tatsächlich über eine Wohnung und Sozialhilfe.
Schiffers neue Pläne
Knapp zwei Jahre später arbeitet der Seemann wieder auf Gran Canaria, diesmal als Segellehrer. Seinem einstigen Unterstützer verspricht er einen gemeinsamen Törn: Falls er ein Segelboot überführt, will er ihn mitnehmen. So etwas hat er schon oft gemacht. Doch im Frühjahr 2005 unterbreitet ihm niemand ein solches Angebot. „Dann chartern wir eben eine Yacht“, beschließt Schiffer. Er bucht zwei Flüge nach Mallorca und ein Schiff.

Am 16. Mai 2005 gehen die beiden Männer in Palma an Bord der knapp elf Meter langen „Satchmo“, einer Sun Odyssey 35 im Wert von 120.000 Euro. Ein Mitarbeiter der Charterfirma kommt an Bord. Bevor der beginnt, die wichtigsten Dinge an Bord zu erklären, schickt Dieter Schiffer seinen Mitsegler zum Einkaufen. Als Paul Sternbeck mit dem Proviant zurückkommt, ist die Einweisung beendet. Der Mitarbeiter geht von Bord, Sternbeck kann sich nur noch von ihm verabschieden.
Ein Schnäppchen
Einige Tage später liegen sie vor Formentera. Dieter Schiffer sitzt unten am Kartentisch und ruft nach oben zu Paul: „Morgen fahren wir zum Festland.“ „Dürfen wir das, Dieter? Das Chartergebiet umfasst doch nur die Balearen.“ „Natürlich dürfen wir das. Ich kann doch mit meinem Boot machen, was ich will.“ Bei diesen Worten lächelt Dieter Schiffer stolz und glücklich.
„Dein Boot?“ „Ja, ich habe es gekauft.“ Er zeigt Paul Sternbeck eine Urkunde. „Internationaler Bootsschein“, steht dort. „Eigner: Dieter Schiffer“. Das Dokument sieht aus wie ein KFZ-Brief. Weißes Papier mit schwarz-rot-goldener Bundesflagge und dem Bundesadler. Innen sind die technischen Daten vermerkt. Paul Sternbeck hat so etwas noch nie gesehen. Er staunt. Was kostet denn so ein Boot? „War günstig, ein Versicherungsfall“, antwortet Schiffer.
Sternbeck freut sich für ihn. In seinem Reisetagebuch notiert er: „Er hat es also geschafft! Dieter besitzt wieder ein eigenes Schiff.“ Der Skipper schlägt vor, den Namen des Bootes zu ändern: „Was hältst du von ,Wega’?“, fragt er Sternbeck. „Nenn es, wie du willst. Es ist doch dein Boot!“ Sie beschließen, ihren Törn zu verlängern. Sie sprechen über mögliche Reiseziele, über die Karibik und schließlich die Kapverdischen Inseln. Schiffer verspricht Sternbeck, ihn an seiner Lieblingsinsel San Antao abzusetzen.
Nach Südwesten unterwegs
Doch erst einmal genießen sie die Welt auf See, in der Dieter Schiffer seit Jahrzehnten zu Hause ist. Schwärme von Delfinen begleiten das Boot, schießen von achtern heran, überholen es, drehen bei und tauchen unter dem Boot hindurch. Sie sichten einen Schwertfisch, später werden sie von Thunfischen begleitet. So segeln sie durch die Straße von Gibraltar, machen immer wieder an der Küste Marokkos fest und nehmen dann Kurs auf die Kapverden.
Drei Wochen sind sie nun unterwegs. Was reizt dich eigentlich an den Kapverden, fragt Schiffer seinen Mitsegler. Es sind doch nur braune, staubige Felsen. Anlegen kann man auch nicht, außer in Mindelo auf Sao Vincente. Überall anders muss man ankern und kommt dann nur mit einem Beiboot durch die Brandung ans Festland.

Schiffer möchte lieber nach Westafrika segeln, nach Gambia. Das sei ein wunderschönes Land, es gebe Nilpferde und Krokodile. Sternbeck will zwar immer noch auf die Kapverden, aber er ist auch neugierig auf Urwald und exotische Tiere. Also geht es an der Küste Senegals entlang nach Banjul, Gambias Hauptstadt. Ohne Radar manövrieren sie sich zwischen zahllosen Fischerbooten hindurch, manchmal können sie nur knapp ausweichen. Eines Nachts kollidieren sie beinahe mit einem der unbeleuchteten Fahrzeuge.
Sehnsucht nach Berlin
Am 14. Mai 2005 erreichen sie Banjul. Dort trennen sich die Wege der beiden ungleichen Männer. Sein Ex-Schwager habe viel getrunken und undurchsichtige Geschäfte eingefädelt, sagt Paul Sternbeck. Er selbst schließt neue Reisebekanntschaften. Sechs Wochen ist er nun verreist. Es zieht ihn zurück nach Berlin. Er will sich dort Medikamente verschreiben und operieren lassen. Und sein damals siebzehnjähriger Sohn wird in Kürze die Schule beenden. Dessen letzten Schultag will er nicht verpassen.
Doch längst steht sein Name auf internationalen Fahndungslisten. Am 25. Mai 2005 kehrt er in seine Berliner Wohnung zurück. Zehn Tage später wird er vor seiner Haustür verhaftet und wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft gesetzt. Wahrheitsgemäß gibt der verdutzte Rentner an, wo die Yacht zu suchen sei.
Wie klaut man ein Schiff?
Sternbeck sperrt man In der Justizvollzugsanstalt Moabit zunächst in eine Gemeinschaftszelle. In seinem Tagebuch notiert er: „Acht Männer befinden sich in dem Raum, der vom Zigarettenrauch total vernebelt ist. In einer mit Folie abgedeckten Schüssel gibt es Suppe. Sie stinkt. Nach zwei Löffeln lasse ich sie stehen.
Enrico löffelt ebenfalls lustlos und lässt sie stehen, um dann übergangslos in die Suppe zu kotzen. Er kotzt bis zur Galle. Der Raum riecht säuerlich, aber es fällt wohl keinem auf. Enrico hat jedem erzählt, ich hätte ein Schiff geklaut. Und fast jeder möchte von mir wissen, wie man das macht. Ich stehe hier bei den Ganoven in hohem Ansehen.“

Nach vierundzwanzig Tagen Haft darf Sternbeck die Haftanstalt verlassen. Vorläufig. Viermal in der Woche muss er sich bei der Polizei melden. Er notiert: „Ich habe eine andere Welt kennengelernt. Nie wieder möchte ich die eiskalten Handschellen spüren. Auch möchte ich weder noch einmal hinter Gittern sitzen, noch mich jemals wieder einer so entwürdigenden medizinischen Untersuchung unterziehen müssen. Ich möchte nie wieder Menschen in ihr Essen kotzen sehen, es sei denn, es handelt sich um Menschen, die ich liebe und die meiner Hilfe bedürfen.“
Ich liebe meinen Beruf!
Beim Prozess im Oktober 2005 sieht er erstmals seinen Ex-Schwager wieder. Der sitzt noch immer in Untersuchungshaft und erfreut die Staatsanwältin mit einem Geständnis. Dieter Schiffer schildert, wie er sich die benötigten Daten aus Tests der Zeitschrift „Yacht“ besorgt und in einen fingierten Kaufvertrag eingesetzt hat.
Wie er das gefälschte Dokument dem ADAC schickte, einer Institution, die dazu berechtigt ist, internationale Bootsscheine auszustellen. Er hatte eine Lücke im Gesetz erkannt: Zur Erteilung dieses Dokuments muss kein Eigentum nachgewiesen werden, es muss nur glaubhaft gemacht werden. Dazu reicht ein Stück Papier.
Ich hätte mich an keiner Straftat beteiligt!
Als er den Bootsschein erhalten hatte, habe er gezielt nach einer Charterfirma gesucht, die diesen Schiffstyp offerierte. Warum tat er das? Er habe wieder Törns für Touristen anbieten wollen. „Es ist mein Beruf – ich liebe ihn!“, sagt Dieter Schiffer. Vom Gehalt eines Segellehrers könne man keine Yacht kaufen.

Paul Sternbeck, der beteuert, lediglich durch Mangel an Misstrauen in die Sache verwickelt zu sein, erntet wenig Verständnis. Auch sein Mitangeklagter entlastet ihn nicht. Im Gegenteil: „Ich habe den Schiffsnamen geändert und er hat sich seinen Teil denken können“, sagt Dieter Schiffer. „Ich hätte mich an keiner Straftat beteiligt“, beteuert der Rentner. Er habe nicht gewusst, wie desolat die wirtschaftliche Situation seines Ex-Schwagers gewesen sei.
Die Staatsanwältin überzeugt er damit nicht. „Manchmal hat man hier Angeklagte sitzen, die sind grenzdebil. Denen glaubt man ihre Naivität. Aber Sie sind doch ein studierter Ingenieur!“ „Ich fühle mich geehrt, Frau Staatsanwältin“, antwortet der Angeklagte. Seine Hände spielen mit einer blauen Lesebrille. „Aber ich bin leichtgläubig.“ „Sie wissen doch, wie lange es dauert, ein Auto anzumelden. Da können Sie sich doch denken, dass man nicht in fünf Minuten ein Schiff kauft und gleich die Papiere bekommt“, hält die Staatsanwältin dagegen.
Der Richter sieht das ähnlich: „Da pinselt Herr Schiffer einfach so einen anderen Namen auf das Boot und Sie stellen keine Fragen?“ Er folgt dem Plädoyer der Staatsanwältin: Dieter Schiffer wird nach drei Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen, sein Geständnis mit einer Bewährungsstrafe honoriert. Ein Jahr Haft droht ihm der Richter wegen Urkundenfälschung, mittelbarer Falschbeurkundung und schweren Betrugs an.
Ein besonderes Geschenk
Sternbeck aber habe die Entführung der Segelyacht durch sein Kochen und die Übernahme von Wachen begünstigt. Er soll 1.800 Euro Geldstrafe bezahlen, das entspricht 90 Tagessätzen. Mit Prozess- und Anwaltskosten sind das etwa 5.000 Euro. Außerdem klagt die Versicherung der Charterfirma die 35.000 Euro ein, die durch die Yacht-Überführung entstanden sind.
Der Rentner versteht seine Verurteilung nicht: „Dieter hat das Dokument doch in jedem Hafen zeigen müssen. Alle haben die Urkunde anerkannt. Nur von mir wird verlangt, dass ich den Betrug bemerkt haben müsste.“

Dieter und Paul
Nach seinem Freispruch hört Paul Sternbeck nur noch selten etwas von dem Betrüger. Schiffer soll noch über zehn Jahre gelebt haben und schließlich in Vietnam oder Kambodscha gestorben sein.
2012 verwirklicht Paul Sternbeck seinen großen Traum: Er zieht auf die Kapverdischen Inseln. Er lernt Kreol, die Sprache der Einheimischen. Und um sich an den Wahlen beteiligen zu können, beantragt er die kapverdische Staatsbürgerschaft. Die Bearbeitung dauert lange – mit einer Geburtsurkunde, die in Sütterlinschrift ausgefüllt wurde.
2019 sitzt der mittleerweile 80-Jährige in einem Auto, das rückwärts in eine Schlucht rollt. In letzter Sekunde gelingt ihm der Absprung. Paul Sternbeck wird dabei schwer verletzt, aber er ist dankbar, dass er weiterleben kann. 2021 heiratet er noch einmal.
Eine Aufgabe für die Politik
Die Lücke, die Dieter Schiffer für seinen Betrug nutzte, ist bis heute nicht geschlossen. Noch immer stellt der ADAC „Internationale Bootsscheine“ aus. Der Bootseigner muss lediglich eine Kopie der Rechnung für das Boot einreichen oder einen Kaufvertrag mit den Unterschriften von Verkäufer und Käufer. Die Praxis habe sich bewährt, sagt ein Sprecher des ADAC.
Natürlich könne ein betrügerischer Missbrauch nicht ausgeschlossen werden. Mit einem Zentralregister für alle Boote in Deutschland könne man diesen erschweren. Dafür sei das Bundesministerium für Digitales und Verkehr zuständig.