„Ab jetzt hast Du 48 Stunden Zeit, das Land zu verlassen“, klärt mich die mexikanische Grenzerin förmlich auf, während sie mir meinen gestempelten Pass über den Tresen schiebt. Und setzt weniger förmlich hinzu: „Aber Du darfst jederzeit gerne wiederkommen.“ Ja, wiederkommen, das will ich. Mit meinem abgelaufenen Visum muss ich jedoch erst mal raus aus Mexiko. Wegen der Pandemie sind alle näher liegenden Ziele geschlossen, also werde ich meinen Sohn in den USA besuchen, in Mobile, Alabama.
Mobile liegt 600 Seemeilen entfernt, auf der anderen Seite des Golfs von Mexiko. Es ist Juli, mitten in der Hurrikan-Saison, nicht gerade die optimale Saison für diese Reise. Eine gründliche Vorbereitung ist überlebensnotwendig. Laut Windy müsste sich morgen ein gutes Wetterfenster auftun, aber es wäre töricht, sich nur auf diese eine, zugegebenermaßen sehr benutzerfreundliche Quelle zu verlassen.
Immer den SOLAS-Regeln nach
Zurück auf Seefalke, meiner 40-Fuß-Stahlketsch, setze ich mich mit einer Tasse Kaffee in die Navi-Ecke. Ich hole meine Planungskladde hervor, in der ich jede Passagenplanung, so kurz oder einfach die Reise auch sein mag, dokumentiere. Dafür habe ich eine einfache Checkliste entwickelt, die ich nun gewissenhaft abarbeite.

Sie orientiert sich an SOLAS Kapitel V Regel 34, die im Gegensatz zu den meisten anderen SOLAS-Regeln für alle seegehenden Schiffe und für alle Reisen gilt. Und das egal wie klein, egal wie kurz. Ein Blick in dieses Regelwerk lohnt sich, weil es viele äußerst praktische Hinweise auf die Reiseplanung bietet.

Zur Einstimmung mache ich mir bewusst, wo ich mich befinde und wie die normalen Wetterverhältnisse zu dieser Jahreszeit für das zu befahrende Seegebiet aussehen. Das hilft mir immer sehr bei der Einordnung des aktuellen Wetterberichts.
Wissen, was reviertypisch ist
Ist das vorhergesagte Wetter zum Beispiel eher typisch für Seegebiet und Jahreszeit, ist damit zu rechnen, dass es stabiler ist. Ist es dagegen eher untypisch, ist mit kurzer Dauer und höheren Abweichungen von den vorhergesagten Werten zu rechnen.

Wird zum Beispiel mitten im Passatgürtel plötzlich Westwind angekündigt, ist es klar, dass dieser nicht von langer Dauer sein wird. Ich hole mir also die riesigen Monatskarten des Nordatlantik hervor, die mir verraten, dass sich im Sommer im Golf von Mexiko immer ein mächtiges Hochdruckgebiet einnistet.
Das sorgt großräumig für schwache, umlaufende Winde und wird nur durch tropische Stürme unterbrochen. Weiter südlich sind die Verhältnisse, noch unter dem Einfluss der Passatwinde, schon ein gutes Stück stabiler.
Ungemütlich, aber nicht gefährlich
Tropensturm Hanna hatte die letzten Tage diese Harmonie im Golf von Mexiko etwas durcheinandergewirbelt und sorgt jetzt in seiner Heckwelle für frischen südlichen Wind um die 20 Knoten, auf den ich auch schon etwas spekuliert hatte. Das wird allerdings seinen Preis haben: Bezahlen werde ich diese günstigen Winde nämlich mit einer hohen Welle, die nach dem Sturm leider immer noch da draußen steht.
Zwei bis drei Meter hoch soll diese in den nächsten zwei Tagen noch sein. Das hört sich nicht so dramatisch an, allerdings mache ich mir auch nichts vor. Die signifikante Wellenhöhe ist nur ein statistischer Wert und definiert sich als „mittlere Höhe des höheren Drittels aller Wellen in einem Seegebiet“.

Das heißt letztendlich, dass – Normalverteilung vorausgesetzt – bereits jede sechste Welle höher sein wird als die vorhergesagte Wellenhöhe. Ungemütlich wird es also werden, und ich sollte besser alles sturmfest verzurren. Gefährlich werden sollte es jedoch nicht, was mir ein Blick auf die Strömungsvorhersage zeigt. Der mächtige Yucatan-Strom setzt in der Straße von Yucatan bis tief in den Golf hinein mit gut drei Knoten nach Norden.
Den Wind lesen
Mit dem Wind aus Südosten werden Welle, Strom und Wind aus demselben Quadranten kommen, was eine hohe, aber lange Welle erwarten lässt, die nicht bricht. Ich muss nur darauf achten, dass der Strom deutliche Auswirkung auf den scheinbaren Wind haben wird. Bei Wind gegen Strom und drei Metern Welle würde ich die Abfahrt wahrscheinlich verschieben. Das hatte ich schon mal, vor neun Monaten vor Guyana, und freiwillig habe ich darauf keine Lust mehr.