Es war das immer gleiche Ritual. Kaum hatten wir die Leinen in unserem Heimathafen in Fleckeby losgeschlagen, da schenkte mein Vater sich einen Sherry ein, goss einen kräftigen Schluck in die Schlei und erhob das halbvolle Glas salbungsvoll zum Toast: „Rasmus, altes Rübenschwein, gib uns Wind und Sonnenschein und lass uns schneller als die anderen sein!“
Ich war damals noch sehr jung und wunderte mich anfangs, warum mein Vater meinem Kumpel aus dem Ruderverein huldigte. Ich hatte Asmus verstanden, so hieß unser Schlagmann. Er aber meinte Rasmus, den Gott des Windes und des Meeres, der offensichtlich kein großer Sherry-Liebhaber war. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum wir meist weder guten Wind noch Sonnenschein hatten. Und schneller als die anderen waren wir schon gar nicht.
Wir segelten damals auf einer Neptun 22. Oder es war Rasmus Rache, weil mein Vater den deutlich größeren Tropfen seine Kehle hinablaufen ließ. Und das früh am Morgen. Zu früh, wenn ich den grimmigen Gesichtsausdruck meiner Mutter richtig deutete. Aber mein Vater ließ sich nicht beirren, er hatte die beste Ausrede parat, die keinen Widerspruch duldete. „Das macht man so. Oder willst Du es Dir mit den Göttern verscherzen?“
Der Aberglaube gehört zu der Seefahrt wie das Seemannsgarn. Oder in der heutigen Zeit das Hafenkino. Viele kennen und befolgen die Riten, ohne deren Bedeutung und Ursprung zu kennen. Dass Pfeifen an Bord Unglück bringt, leuchtete mir noch ein. Ich fragte mich nur, woher all die anderen Segler wussten, dass die schrägen Laute, die mein Vater gut gelaunt durch seine Lippen presste, das Potenzial zum Tinnitus hatten.
Jahre später wunderte ich mich dann, warum mir ein guter Freund, ein Nichtraucher, immer eine Kerze vor das Gesicht hielt, wenn ich mir eine Kippe anstecken wollte.

„Das macht man nicht“, sagte ich empört. „Da stirbt ein Seemann!“ Er lächelte: „Ich weiß.“ Es war nicht so, dass der besagte Freund etwas gegen Segler im Allgemeinen hatte. Er segelt selber. Aber zu dieser Zeit war der Liebhaber seiner erfolglos Angebeteten gerade auf hoher See.
Riten, Mythen, Aberglaube – die meisten haben ihren Ursprung in der Zeit, als Seefahrer noch großen Gefahren ausgesetzt waren. Die Ungewissheit auf See, der Kampf mit den Naturgewalten, die Angst vor Seeungeheuern, die langen Passagen ohne Land in Sicht, das alles machte empfänglich für den Aberglauben, der sich bis heute in den Köpfen vieler Segler gehalten hat. Auch wenn sie oft gar nicht mehr wissen, woher der Aberglaube stammt. Ein Erklärungsversuch.
Der Schluck für die Götter
Eigentlich müssten Rasmus, Neptun und Poseidon dauerbeschwipst sein. Fast jeder Segler opfert ihnen bei Törnbeginn einen Schluck des besten Tropfens an Bord. Gaben für die Götter sind seit der Antike ein beliebtes Schmiermittel. Man könnte sagen, es war eine Art der frühzeitlichen Korruption. Eine Erklärung für den Opferschluck geht auf die Eroberung Trojas zurück.
Als die Achaier mit ihrer Flotte Kurs auf Kleinasien gelegt hatten, gerieten sie in eine hartnäckige Flaute. Ein Prophet kannte die Lösung. König Agamemnon sollte seine hübscheste Tochter opfern. Gesagt, getan. Kaum war Iphigenie tot, kam der Wind zurück. Der Rest ist Geschichte.
Pfeifen verboten
Weit verbreitet unter Seeleuten ist der Glaube, dass Pfeifen an Bord schlechtes Wetter heraufbeschwört, oder konkreter gesagt: Sturm! Denn der pfeift bekanntlich auch.

Und so gibt es noch weitere, ähnliche Mythen. Klatschen an Bord soll Donner provozieren, das Werfen von Steinen ins Wasser hohen Seegang.
Kerze + Kippe = Seemann tot
Die Redensart „Wenn man an einer Kerze eine Zigarette entzündet, dann stirbt ein Seemann“ hat keine mythologische Erklärung, sondern eine ganz pragmatische. Wenn Seemänner früher keine Heuer fanden, dann verdienten sie sich ihren kargen Lebensunterhalt im Hafen, indem sie Streichhölzer schnitzten. Wer seine Kippe an einer Kerze entflammte, brauchte keine Streichhölzer. Er brachte die Seemänner somit um ihre Einkünfte, die sie zum Überleben so bitter nötig hatten.
Der Fluch der Banane
Bei vielen Seglern sind Bananen an Bord verpönt, bei anderen führen sie sogar zu Panikattacken. Der Aberglaube, dass Bananen an Bord Unglück anziehen, geht auf das 18. Jahrhundert zurück. Es war die große Zeit der Frachtsegler, die Waren zwischen der Neuen und der Alten Welt beförderten. Nicht alle kamen an. Und besonders oft waren es die, die Bananen geladen hatten. Es gibt verschiedene Erklärungsversuche.
Einer lautet, dass die Segler aufgrund ihrer verderblichen Fracht die schnellste und riskanteste Route wählten oder selbst im Sturm gnadenlos übersegelt waren – statt schnell, kamen sie gar nicht an. Auch glaubten einige Seeleute und Kaufleute, dass Bananen verflucht seien. Kaum waren Bananen an Bord, vergammelte das andere Obst viel schneller als sonst.
Dass Bananen Ethylengas freisetzen, wodurch andere Früchte schneller reifen, fanden Wissenschaftler erst viel später heraus. Und dann bargen Bananen noch ein ganz natürliches Risiko: Zwischen den Stauden versteckten sich oft giftige Spinnen und Schlangen.
Ein Tattoo für die Götter

Auf der Weite der Ozeane fühlten sich Seeleute oft einsam und klein. Und weil das Universum so unendlich schien, klammerten sie sich an Übersinnliches, glaubten an die Kraft von Symbolen, die Glück bringen und Unglück abwehren sollten. Beliebte Motive für ein Seemanns-Tattoo waren ein Seestern oder ein Kompass, der ihnen immer den rechten Weg weisen und die Heimkehr garantieren sollte.
Auf die Füße ließen sich Seeleute Bilder von Hähnen und Schweinen stechen, weil sie glaubten, die Götter würden die Tiere nach einem Unglück vor dem Ertrinken retten. In der Tat waren es nach einer Havarie oft Kleintiere, die überlebten, was aber auch daran liegen könnte, dass sie in schwimmenden Holzkisten gehalten wurden.

Hasen bringen Unglück
Über folgende Anekdote wurde bereits mehrfach berichtet: Die Britin Ellen MacArthur, einst Rekordhalterin für die schnellste Einhand-Weltumseglung, reagierte in einem Interview mit Entsetzen auf die Frage, ob sie ein Kuscheltier, beispielsweise einen Hasen, an Bord gehabt habe: „Pssst! Das darf man nicht sagen! Das Tier, das Sie gerade genannt haben, bringt sehr, sehr viel Unglück!“ Hasen an Bord bringen also Unglück?
Der Aberglaube stammt aus den Zeiten, als Segelschiffe lebendige Hasen und Kaninchen als Nahrung für die Mannschaft mitführten. Doch büxten die Nager einmal aus, war die Katastrophe kaum noch abzuwenden. Sie knabberten an Tauwerk, Takelage und Halteseilen. Nicht selten soll es vorgekommen sein, dass die Ladung daraufhin verrutschte und die Schiffe kenterten.
Deshalb gelten Hasen als böses Omen. Und so reagierte die Crew des Maxi-Katamarans „Playstation“ bei der Weltumsegelung The Race im Jahr 2001 auch entsetzt, als sie Küchenpapier mit aufgedruckten Hasen an Bord entdeckte. Am 16. Tag der Regatta musste das Team um Steve Fossett nach massiven Problemen aufgeben. Natürlich war der Hase schuld.
Keine Frauen an Bord
Es dürfte einer der ältesten Aberglauben in der Seefahrt sein: Frauen an Bord bringen Unglück. Eine Erklärung dafür führt zu den Sirenen, jenen sagenumwobenen Fabelwesen, die mit ihren süßen Stimmen Seeleute auf Klippen lockten. Eine andere Vermutung ist da etwas pragmatischer. Frauen würden Seeleute von ihren Pflichten ablenken, die Leidenschaft wecken und Eifersucht unter den Besatzungsmitgliedern säen.
Mittlerweile sind Frauen in der Seefahrt aber rehabilitiert. Sie steuern Containerriesen, dienen in der Marine oder rudern mal eben über den Atlantik. Und segeln natürlich überall hin, alleine oder mit Crew, Regatta oder Blauwasser.
Rote Haare, blaues Wunder

Woher die Angst vor Rothaarigen stammt, ist nicht genau bekannt. Aber schon im Mittelalter wurden Rothaarige in die Nähe von Hexen gerückt. Für Seemänner jedenfalls ist es ein böses Omen, wenn sie vor dem Auslaufen einer Person mit roten Haaren begegnen. Aber zum Glück gibt es Abhilfe: Der Seemann muss den Rotschopf ansprechen, bevor der es tut. Dann ist das Schlimmste gebannt.
Hindernisse bei der Schiffstaufe
Die Schiffstaufe ist ein bewegender Moment. Aber wehe, sie geht schief! Dann ist das Schiff quasi zum Sinken verurteilt – so zumindest der Aberglaube. Der Taufpatin kommt dabei eine besondere Rolle zu. In Großbritannien darf sie weder rothaarig sein noch ein grünes Kleid tragen. Andere Länder, andere Sitten: In Frankreich sollte sie nicht schwanger sein. Und auf den Tauftag kommt es auch an.
Der Freitag fällt als Tag für Taufen aus (das Gleiche gilt übrigens in der christlichen Seefahrt für das Auslaufen, weil der Freitag der Tag der Kreuzigung Jesu ist). Ein Schiff ungetauft in See stechen zu lassen, ist grob fahrlässig, das Unglück kaum noch abzuwenden. Siehe Titanic, die wurde auch nicht getauft.

Neuer Name für altes Schiff
Bis heute gibt es heftige Diskussionen darüber, ob die Umbenennung eines Schiffes Unglück bringt. Und das hängt der Legende nach mit dem „Ledger of the Deep“ zusammen, einer Art Register des Meeres, in dem jedes Schiff vermerkt ist. Jede Änderung dieses Registers erregt den Zorn Neptuns, weil er glaubt, mit dem neuen Namen wolle man ihn täuschen. Wer sein Schiff dennoch umbenennen will, sollte zuvor unbedingt den Macoui töten, der Sage nach eine Schlange, die im Kielwasser lebt.
Und das geht so: Während der Fahrt wird ein kräftiger Schluck des Lieblingsgetränks des neuen Eigners ins Kielwasser gekippt, um den Macoui betrunken zu machen. Dann wendet man sehr kurz und kreuzt dreimal durch das eigene Kielwasser. So trennt man den Macoui vom Boot. Angeblich ist Neptun dann informiert, die Zeremonie kann beginnen.
Wichtig ist dabei, dass alle Spuren des alten Namens vom Schiff verschwinden, auch sollte der alte Name auf ein Blatt Papier geschrieben, anschließend verbrannt und die Asche bei Ebbe ins Meer geworfen werden. Ach ja, und benennen Sie ihr Schiff nie nach Ihrer Frau oder Freundin. Außer, Sie wollen sie loswerden. Denn sinkt das Schiff, bedeutet das auch nichts Gutes für die Partnerin.
Geistliche an Bord

Pfarrer und Priester an Bord beschwören das Unglück herauf, auch das ist ein weit verbreiteter Aberglaube unter Seeleuten. Der Grund ist einfach erklärt: Geistliche sind bei Bestattungen zugegen. Aus dem gleichen Grund sind auch Blumen an Bord verpönt, also Begräbnisschmuck. Ähnliches gilt für das Läuten von Glocken. Jedes Geräusch, das Glocken ähnelt, wie beispielsweise das Klirren von Gläsern, muss sofort unterbunden werden, weil es als Omen des Todes empfunden werden kann. Das gilt zum Beispiel auch für Schiffsglocken, die bei Sturm selbständig erklingen.
Töte niemals einen Albatros
Wer einen Albatros tötet, der beschwört das Pech herauf, denn die Seelen verstorbener Seeleute leben in den Seevögeln weiter. So lautet ein alter Aberglaube. Überfliegt ein Albatros aber das eigene Schiff, bedeutet das Glück. Quasi ein Gruß von Seemann zu Seemann.

Die Körperpflege
Gab es jemals einen gut frisierten Piraten? Wahrscheinlich nicht! Vielleicht lag das aber gar nicht allein an den hygienischen Bedingungen damals, sondern auch am Aberglauben. Das Schneiden der Nägel und Haare, das Rasieren des Bartes gilt als ein gefährliches Spiel mit dem Schicksal. Also verzichtete der Seemann auf Körperpflege.
Ich bin jedenfalls sehr froh, dass meinem Vater dieser Aberglaube damals nicht bekannt war und es bei der Opfergabe für Rasmus geblieben ist. Meine Mutter stimmt da sicherlich zu.