Gegen 9.30 Uhr ist Corrie das erste Mal beunruhigt. Der erfahrene Skipper bemerkt, dass sich das Boot in den Wellen anders verhält als gewohnt. „Plötzlich haben sich Kreuzseen gebildet und die Wellen meterhoch aufgebaut“, sagt Corrie. Und dann ist es plötzlich ganz still. Der Wind ist weg, wie mit einem Schalter ausgeknipst. Nur die Wellen sind noch da, wirbeln die Wilson Street herum. Corrie ahnt, was kommen wird. [Teil 1 Alptraum auf der Wilson Street lesen] Sofort refft er die Segel auf Handtuchgröße, und dann fegt auch schon die erste Orkanbö über das Boot.
Kreuzseen und Wellentürme
Die Wellen haben sich binnen Minuten zu fünf Meter hohen Türmen aufgebaut, sie kommen von allen Seiten. Auf dem Wellenkamm presst der Sturm die Wilson Street auf die Seite. Im Wellental ist Windstille, die Segel schlackern. Das Boot ist kaum noch zu halten. Corrie wirft die Maschine an, um das Boot wieder unter Kontrolle zu bringen.
Doch der Tank ist fast leer. Er kämpft mit dem Kanister, um Diesel nachzufüllen. Aber der Wind zerstäubt den Diesel, ehe er den Stutzen erreicht. Das Gemisch verteilt sich überall auf dem Boot, legt einen rutschigen Film auf das Deck, hüllt Corrie und Jennifer in eine Wolke aus Gestank. Vielleicht zwei, drei Liter haben den Weg in den Tank gefunden, der Rest ist verweht. Als der Kanister fast leer ist, reißt der Sturm ihn aus Corries Hand. Die Windmesser zeigt jetzt über 50 Knoten an – Windstärke 10.
Binnen einer halben Stunde hat sich das Meer in ein Tollhaus verwandelt. Jennifer geht unter Deck und funkt gegen zehn Uhr die Seenotrettung in Malta an. Sie setzt keinen Notruf ab, eigentlich weiß sie gar nicht genau, was sie will. Vielleicht ist es nur der Instinkt, der ihr sagt, dass es gut wäre, wenn da draußen jemand weiß, wo sie sind. Als die Seenotretter die Position der Wilson Street aufgenommen haben, wollen sie wissen, wie die Lage ist. Jennifer sagt: „Wir brauchen Diesel!“ Funkstille! Nach einer kurzen Pause meldet sich die Stimme erneut. „Sicher, dass euer Problem Diesel ist?“
Gewaltige Wetterfront im Anmarsch
Anders als Corrie und Jennifer sehen die Seenotretter auf dem Monitor, was für eine gewaltige Wetterfront auf die Wilson Street zurollt. Jennifer kann sich nicht mehr genau an den weiteren Verlauf der Gespräche erinnern, nur dass sie plötzlich in Kontakt zu zwei Frachtern ist, die zu Hilfe kommen wollen. Ihr Boot wird in den Kreuzseen hin- und hergeworfen. Unter Deck hat Jennifer Mühe, sich an der Funke zu halten. An Deck versucht Corrie, die Kontrolle über das Boot zurückzuerlangen.
Aber er kann nicht einmal sagen, woher der Wind kommt. Ist die Wilson Street in einem Wellental, sieht er nur meterhohe Wände aus Wasser um sich herum. „Wir bekommen Hilfe“, informiert Jennifer ihren Mann. Der nickt nur. Minütlich verschärft sich die Situation, werden die Böen immer heftiger und unberechenbarer.
Rettungsinsel versagt
„Ich hatte keine Ahnung, wie so eine Rettung ablaufen würde“, sagt Corrie. Also macht er die Rettungsinsel fertig, die sie vor einem Jahr gekauft haben. Doch als die Rettungsinsel ins Wasser fällt, passiert: nichts! Wie ein Hartschalenkoffer zieht die Wilson Street die weiße Schale an der 20 Meter langen Leine hinterher. Corrie versucht noch, die Rettungsinsel wieder an Bord zu hieven, aber er hat keine Chance, die Wellen sind zu stark. „So ein Mist“, denkt er. „Wenn wir jetzt absaufen, können wir die gar nicht mehr reklamieren.“ Heute lacht er über seine merkwürdigen Gedanken in der Notsituation.
Es vergeht eine knappe Stunde, bis die 170 Meter lange Team Osprey aus dem Grau auftaucht und sich in Luv der Wilson Street legt, um ihr Schutz vor den Wellen zu geben. Wenig später taucht auch das zweite Schiff auf, ein noch deutlich größeres Frachtschiff, das wiederum dem Tanker Windschatten gibt. Das Boot der Australier liegt nun fast in ruhigem Wasser. Nur der Schwell hebt und senkt das Boot regelmäßig um die vier Meter.
Mit einem lauten Knall feuert die Besatzung des Tankers eine Leine auf die Wilson Street. Doch die Leine verfängt sich im Mast. „Jetzt nur nicht ziehen“, denkt Corrie. Dann knallt es erneut. Der zweite Schuss landet im Wasser. „Wer steht denn da an der Kanone?“, sagt Jennifer zu Corrie – und lacht. Galgenhumor in einer dramatischen Situation.
Der dritte Schuss muss sitzen
Was die beiden nicht wissen: Der dritte Schuss muss sitzen. Sonst muss das Manöver abgebrochen werden. Das erzählt der Kapitän den beiden später. Auch wird das Zeitfenster für die Rettung immer kleiner. In wenigen Minuten wird der Wind auf über 80 Knoten zulegen. „Das Komische“, sagt Jennifer später, „wir hatten nie wirklich Angst. Wir waren die ganze Zeit fokussiert auf unsere Arbeit, da war gar keine Zeit für Panik.“
Der dritte Schuss sitzt. Die Leine landet vor der Sprayhood. Corrie greift das Tauwerk, zieht und zieht. Aus der dünnen Leine wird eine dickere, dann eine noch dickere, bis er ein 25 Millimeter Monstrum an Deck zieht, steif von Salzwasser, kaum zu biegen und zu dick für die Klampen. Nur mit Mühe kann er das Seil um die Winsch legen.