Wieder auf der Brücke hat Jennifer eine Frage: „Wo fährt das Schiff eigentlich hin?“ Der Kapitän erklärt, dass sie aus Rotterdam kommen. „Unser Zielhafen ist Istanbul. In etwa sechs Tagen werden wir ankommen.“ Corrie und Jennifer schauen sich entsetzt an. Nicht schon wieder in die Türkei!
Häme auf Facebook
Am nächsten Tag, der Medicane ist langsam Richtung Griechenland abgezogen, findet Jennifer auf Facebook eine Nachricht der australischen Seenotrettung (Amsa). Das Foto zeigt die Wilson Street kurz nach der Rettung. Es ist das Bild, das ein Besatzungsmitglied um 11.43 Uhr des Vortages gemacht hat. Die Seenotrettung bedankt sich bei den maltesischen Kollegen für die Koordination der Rettungsaktion. Jennifer bricht in Tränen aus.

Nicht wegen der Erinnerungen an die dramatische Rettung, auch nicht aus Trauer um ihr Boot. Es sind die gehässigen Kommentare unter dem Bild. Neben vielen aufmunternden Beiträgen melden sich auch die typischen Besserwisser und Nörgler zu Wort. „Ich sehe da keine Wellen“ oder „Wenn man da nicht klarkommt, hat man auf dem Wasser auch nichts zu suchen“. Kurz überlegt Jennifer zu antworten, zu erklären, dass keine Wellen zu sehen sind, weil zwei Frachtschiffe als Wellenbrecher vor der Yacht liegen. Aber dann steckt sie das Handy weg und meidet Facebook für die nächsten Wochen.
Das Epirb löst aus
Die Fahrt nach Istanbul gleicht beinahe einer Kreuzfahrt. Die beiden werden von der Crew liebevoll versorgt, trinken morgens und nachmittags mit den Offizieren Tee, können, wann immer sie wollen, auf die Brücke. Die Reederei stellt ihnen nichts in Rechnung. Seenotrettung ist Ehrensache. Noch bevor sie Istanbul erreichen, scheint die Wilson Street untergegangen zu sein. Die Seenotrettung informiert die Tochter in Australien, dass das Epirb ausgelöst habe.
Entweder wurde das Boot von einer Welle gespült, oder aber das Boot ist gesunken. „Bei der Rettungsaktion wurde der Rumpf sehr stark beschädigt“, sagt Corrie. Er hofft sogar, dass das Boot gesunken ist und keine Gefahr für andere Schiffe darstellt. Die Seeventile zu öffnen, damit das Boot sinkt, daran hat er nicht gedacht in der Ausnahmesituation.

In Istanbul werden die beiden vom australischen Konsulat in Empfang genommen, das den Papierkram regelt und anbietet, sich um einen Flug zu kümmern. „Wir würden gerne nach Malta“, sagt Corrie sofort. Was sie da sollen, weiß er auch nicht. „Es war wie ein innerer Impuls, die Reise zu beenden“, sagt er heute. Noch in Istanbul decken sich die beiden mit dem Nötigsten ein. Mehr als die Klamotten, die sie bei ihrer Rettung am Leib trugen, haben sie nicht. Und natürlich die T-Shirts mit dem Logo des Tankers. Am nächsten Tag fliegen sie nach Malta. Dort treffen sie befreundete australische Segler, mit denen sie zurück nach Sizilien segeln. War es komisch, wieder auf dem Meer zu sein? Jennifer und Corrie schauen irritiert. „Nein, wieso?“
Hersteller verspricht Schadenersatz
Mit dem Hersteller der Rettungsinsel haben sie Kontakt aufgenommen. Der kann sich nicht erklären, warum die Insel versagte. Aber in Anbetracht der Bilder hat er Schadensersatz versprochen. Auch der Wetterdienst hat reagiert. Corrie wollte eigentlich nur fragen, ob er das Abo für mehrere Monate aussetzen könne. Er bekam sein Geld zurück, da die Vorhersage ungenau gewesen sei. Die Versicherung kommt für den Verlust des Bootes auf. Auch wenn der Betrag nicht ganz dem Wert des Bootes entspricht.
Mittlerweile sind Jennifer und Corrie wieder in der Türkei. Zurück nach Australien wollen sie nicht fliegen. Vielmehr suchen sie nach einem neuen Boot, um ihre Reise fortzusetzen. Ob Malta wieder auf dem Törnplan steht, wissen sie noch nicht. Auch wenn sie guter Hoffnung sind, dass Murphy mit dem Boot untergegangen ist.
Epilog
Gut zwei Monate nach dem Vorfall vor Malta erhält Jennifer eine Nachricht über Facebook. Aus Libyen. Ein Mann erkundigt sich nach dem Wohlbefinden der Crew. Ein libyscher Fischer hätte die havarierte Wilson Street auf dem Meer gefunden und in einen Hafen geschleppt. Der Mann scheint von der Küstenwache zu sein.
Jennifer und Corrie trauen ihren Augen nicht. Auf den geschickten Fotos liegt die Wilson Street friedlich in einem Hafen, irgendwo in Libyen. Ohne Mast, Anker und Kette sind verschwunden, der Beschlag ist halb abgerissen. Die Bimini mit Solarpaneelen fehlt, ebenso alles Tauwerk und der Kartenplotter. Die Backbordreling ist in Teilen abgerissen. Der Rumpf, schreibt der Mann, sei beschädigt. Möglich, dass die Wilson Street durchgekentert ist. Oder sie dient als Ersatzteillager für libysche Seeleute.


Persönliche Wertgegenstände seien nicht mehr an Bord, heißt es in der Nachricht. Auf den Bildern, die unter Deck aufgenommen wurden, sieht alles picobello aus. Jemand muss aufgeräumt haben. Im Hintergrund eines Fotos entdeckt Jennifer sogar Putzmittel. Und sie wundert sich. Im Salon hängt ein Bild, das Jennifer in der Türkei gemalt, aber nie aufgehängt hat. Es war gut verstaut. Jemand muss es gefunden und im Salon angebracht haben. Es scheint, als würde jemand auf der Wilson Street wohnen. Murphy???
Die Versicherung jedenfalls scheint sich zu freuen. „Das ist ja großartig“, schreibt eine Mitarbeiterin, als Jennifer und Corrie sie über die Mail des Mannes aus Libyen informieren. „Und, was wollt ihr jetzt machen?“ Corrie ist geschockt. „Ich fahre definitiv nicht in ein Kriegsgebiet.“ Es scheint, als sei das letzte Kapitel der Wilson Street noch nicht geschrieben. Der Alptraum geht weiter.