Für Carl steht die Welt Kopf. Er hat es tatsächlich geschafft. Als Tramper segelt der 19-jährige Berliner auf der Dilly-Dally in die Karibik, ohne Erfahrung, ohne Geld in der Tasche. „Das ist so krass“, sagt der begeisterte Breakdancer und Parkour-Läufer, als er nach dem Auslaufen im Sonnenuntergang vor Freude einen Handstand an Deck vollführt.
Verträumt blinzelt er dabei in die glutrote Sonne, während sich am Horizont Gran Canaria in der Abenddämmerung auflöst. Mehr als sechs Wochen hat er in Las Palmas auf ein Boot gewartet, das ihn mitnimmt auf eine Reise ins Ungewisse, von der alten in die neue Welt. Und kurz bevor sich das Wetterfenster für eine Atlantikpassage schließt, hat er es doch noch geschafft: er trampt über den Atlantik.
Carl schmunzelt sein verschmitztes Lächeln, während sein Gesicht im Kopfstand rot anläuft. Dann holt ihn eine Atlantikwelle aus dem Gleichgewicht – und zurück auf den Boden der Tatsachen. Oder besser gesagt: auf das Deck der Dilly-Dally. Am Heck weht ein ausgefranster Adenauer, vor dem Bug liegen mehr als 3.000 Seemeilen auf dem Weg in die Karibik – mit Zwischenstopp auf den Kapverden.
Insgesamt knapp 6.000 Kilometer, so weit wie von Hamburg nach New York. Und das im gemütlichen Joggingtempo. Fünf bis sechs Knoten, also circa zehn Stundenkilometer, das ist das Durchschnittstempo einer solchen Fahrtenyacht.

Die bunte Welt von Carl wird monochrom. Nur Wasser, Wellen und Wolken umgeben ihn auf dem Atlantik. Grau und Blau in allen Schattierungen, viel mehr Farbe ist da nicht. Und das für Wochen. Das muss man erst einmal aushalten. Zumal mit Menschen, die Fremde sind. Unter extremen Bedingungen, wie man sie an Land nicht kennt. Mit nichts als Gottvertrauen, in Skipper und Boot.
Die Motivation
Vor fünf Jahren begann Carl Ferdinand Beccard, von diesem Abenteuer zu träumen, da war er gerade mal 14 Jahre alt. In den Sommerferien saß er im umgebauten VW-Bus seiner Eltern, die Landschaft Südfrankreichs zog am Fenster vorbei und er lauschte dem Hörbuch „Mit 50 Euro um die Welt“.
Fasziniert von den Anekdoten des Autors Christopher Schacht, fasst Carl einen Entschluss. Nach dem Abitur will auch er den Globus bereisen. Raus aus dem Ostberliner Stadtteil Oberschöneweide, hinein in die große weite Welt. Das Abenteuer reizt ihn, das Unbekannte. „Ich will mehr über die Welt herausfinden“, sagt Carl und klingt plötzlich ganz ernst. Dann schiebt er nach: „Und über mich. Ich will meine Grenzen austesten.“

Besonders eine Passage in dem Buch hat es ihm angetan: Angeblich gibt es eine Tramper-Szene in den einschlägigen Häfen, von denen Yachten zum Sprung über den großen Teich ansetzen. Da will er hin. Schon als kleines Kind hatten ihn die Geschichten von Kolumbus, Magellan und Vasco da Gama, die seine Eltern ihm vorlasen, begeistert. Über den Atlantik zu segeln stellt er sich als das ultimative Abenteuer vor.
Mit 18 Jahren, einem Abi-Notendurchschnitt von 1,7 und etwas Geld in der Tasche, das er in der Berliner Kletterhalle Ostblock verdient hat, schultert er im Sommer 2022 seinen Rucksack – und zieht los. Seine Eltern – er Architekt, sie Requisiteurin – finden das „cool“, wie Carl sagt. Während seine Freunde bereits zur Uni gehen oder ihr erstes selbst verdientes Geld in neueste Spielekonsolen investieren, freut er sich über einen Benzinkocher und ein wasserfestes Zelt. Sein Mobiltelefon halten nur noch graue Klebestreifen zusammen.
Die türkisch-deutsche Crew
Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt sticht im türkischen Kaş die Dilly-Dally in See. Eine 35 Jahre alte Moody 425, knapp 13 Meter lang. Sankt Peter-Ording steht als Heimathafen am Heck. Ihr Ziel: die Karibik. An Bord ist eine türkisch-deutsche Crew: Arzum, Bordhündin Çingene und ich.

Seit über vier Jahren lebe ich auf der Dilly-Dally, nachdem ich Deutschland im Spätsommer 2018 den Rücken gekehrt habe. Nach mehreren Jahren Mittelmeer und Corona hat auch uns die Abenteuerlust gepackt. Wir wollen gen Westen, immer der untergehenden Sonne nach, im Idealfall bis in die Karibik.
Dass wir jemals einen Anhalter an Bord nehmen würden, halten wir für ausgeschlossen. Schon gar nicht auf dem Atlantik. Einmal abgelegt, gibt es kein Zurück mehr. Und niemand weiß, wen man sich da an Bord holt, welche Marotten zu Tage treten, eingesperrt auf wenigen Quadratmetern.
Viele schwärmen von der endlosen Freiheit auf See. Doch die hat ihre eigenen, strengen Regeln an Bord. Alles hat seinen festen Platz. Das Werkzeug, die Stirnlampen, das Sicherheitsequipment. Mit einem blinden Griff muss es erreichbar sein. Und nichts darf herumfliegen. Selbst eine unachtsam abgestellte Tasse kann auf dem Atlantik zum Wurfgeschoss werden. Das Frischwasser ist limitiert, geduscht wird mit einem Kübel Meerwasser, vorausgesetzt die Bedingungen erlauben es.

Der Strom kommt aus der Sonne, und wenn die nicht scheint, bleibt es auch nachts duster. Und natürlich ist auch das Essen rationiert. Denn niemand weiß, wie lange eine solche Passage dauern wird. Selbst Schlaf ist Luxus. Die Wellen und die Schräglage lassen eine entspannte Ruhe kaum zu, dazu die Nachtschichten. Und Schlafmangel schlägt auf die Stimmung. Einmal gekippt, ist sie kaum noch zu retten.