Jeder kennt das Gefühl: Wenn eine Böe beim Anlegen die ganze schöne Kursberechnung über den Haufen wirft, die Kaimauer immer näher kommt und die Crew blitzschnell reagieren muss, damit es nicht richtig teuer wird. Dann schießt wie eine zweite Böe das Adrenalin durch die Adern. Und aus gemütlicher Routine wird plötzlich nackter Ernst.
So fühlen wir uns plötzlich an Bord der „Merennaito“, als aus Spaß Ernst wird. Die Segelyacht der Segelschule Well-Sailing aus Neustadt in Holstein ist seit dem frühen Morgen auf einem Übungstörn. Es geht darum, Seenotrettung zu trainieren. Ein Trainings-Workshop fürs Personal, solange noch nicht der große Andrang herrscht. Wenn kein Segelschüler sich blicken lässt, haben die Lehrerinnen und Lehrer Zeit für die eigene Weiterbildung.
Auch bei ein Meter hoher See und heftigem Wind mit Böen in Sturmstärke. So beginnt der zweite Tag des MoB-Seminars, und das sind die optimalen Bedingungen für eine Übung. Denn je ruppiger See und Wetter, desto größer die Gefahr, dass jemand über Bord geht. Umso näher also ist die Übung einem echten Seenotfall. Wie echt, sollen wir allerdings erst später erkennen.
An diesem zweiten Tag fahren wir mit zwei Booten hinaus – um ideale Fotobedingungen zu haben. Diese Einschätzung ist natürlich relativ. Wenn der Horizont einen Veitstanz aufführt und ein schlingernder, rollender Rumpf völlig unberechenbare Hüpfer in alle Richtungen unternimmt, ist es kaum möglich, in aller Ruhe ein Motiv ins Visier zu nehmen. Von der Konzentration ganz zu schweigen.
Und der zweite Tag des Mensch-über-Bord-Seminars in der Neustädter Bucht hält noch weitere Überraschungen parat. Angefangen mit der Übungs-Puppe. Sie heißt Karlchen, wiegt gut 55 Kilogramm und gleicht auf den ersten Blick einem Menschen. Dabei ist jede Vogelscheuche authentischer. Karlchen hat nicht einmal ein Gesicht. Er trägt für den Seenotfall einfaches Ölzeug und eine Rettungsweste, anstelle des Kopfes einen halb aufgeblasenen Wasserball.
Dieses Gefühl: Hier schwimmt wirklich einer
Doch dieses schräge Outfit genügt, um alle in Atem zu halten. Während das Üben mit Boje oder Fender schnell zur nüchternen Routine wird, stellt Karlchen hohe Ansprüche. An die Konzentration, an die Kraft und die Koordination. Sowohl mit Netz als auch mit einer Sicherungsleine ist es bei diesen Bedingungen schwere Arbeit, den Dummy im Ganzen an Bord zu kriegen. Und es dauert.

Hinzu kommt das beklemmende Gefühl, es wirklich mit einem Menschen zu tun zu haben. Es ist wie beim Rettungsschwimmer-Kurs. Wenn es nicht mehr um Ringe geht, die man aus dem Wasser tauchen muss, sondern um den leibhaftigen, oft schwergewichtigen Schwimmtrainer. Der hilft wenigstens mitunter noch beim Abschleppen oder bei den Rettungsgriffen – nicht aber Karlchen.
Hier sind alle Kräfte im Einsatz. Befehle werden geschrien gegen das Knattern des killenden Vorsegels, das Klackern der Winsch und Klatschen der Wellen am Rumpf. Die Köpfe werden rot vor Anstrengung. Minutenlang liegt der Dummy halb unter Wasser, halb unter der „Merenneito“. Nicht gut, wenn er wirklich lebendig wäre …
Plötzlich beginnt das Funkgerät zu quaken

Dazu passt, dass beim vierten oder fünften Seenot-Fall ins Wasser das Funkgerät zu quaken beginnt. „Achtung, hier Seenotstelle in Bremen“, ist zu hören. Beeindruckend klar erzählt die Stimme aus dem Off, was uns schon seit heute Morgen klar ist: „Person im Wasser, Schiffe im Gebiet Neustädter Bucht werden aufgefordert, Ausschau zu halten.“
Erster Gedanke: Meinen die uns? Das Ufer ist etwa einen Kilometer entfernt. Haben da ein paar Passanten am Strand unser Karlchen über Bord gehen sehen und ihn für einen lebenden Menschen gehalten? Eine Anfrage an die Seenotleitung bestätigt das nicht – denn die Beobachtung wurde weiter südlich gemacht. Wir entschließen uns, die Übung abzubrechen und den Ernstfall ernst zu nehmen. Und prompt entdecke ich einige hundert Meter voraus etwas Rotes im Wasser.