Zurück zu den Wurzeln. Der Zeitgeist hat das Wiederbeleben von Traditionen zur Chefsache erklärt. In Deutschland verfolgt man gespannt die Retro-Regatta Golden Globe Race und trägt Riemensandalen mit Korksohle, die vor 50 Jahren entworfen wurden. In Polynesien erinnert man sich an Tattoo-Motive, den Hula-Tanz und ans Navigieren auf dem Meer ohne technische Hilfsmittel. Auf Hawaii, dem nördlichen Außenposten Polynesiens, erforscht und lehrt Lehua Kamalu die „non-instrumental Navigation“ im Auftrag der Polynesian Voyaging Society (PVS).
Seit über 2.000 Jahren kreuzen die Polynesier auf ihren Zweirumpf-Kanus mit Besegelung zwischen ihren Inseln durch den Pazifik, nur Sonne, Mond, Sternen und Tieren nach. Das Navigieren ohne Karten, ohne Kompass, ohne Sextant und schon gar nicht mit GPS wird seit Generationen vom Großvater an den Enkel weitergegeben.
Dieses Navigieren ist keine Zauberei, sondern basiert vor allem auf permanenter Beobachtung der Umgebung. Wenn die Gestirne noch im gleichen Verhältnis zum Boot stehen wie 24 Stunden zuvor, hat man den Kurs gehalten. Wenn die Vogelschwärme das Boot im gleichen Winkel kreuzen, bestätigt das ebenfalls den Kurs. Schon bei der Routenplanung sollte man darauf achten, mit achterlichen Winden zu segeln, um nicht im Zickzack gegen den Wind den Überblick zu verlieren.

Mit Mau Piailug gegen Andrew Sharp
Wer die spirituelle Seite dieses kosmischen Wegfindens erfasst hat, erhält die Auszeichnung „Pwo“. Pwo ist kein schnödes Navigations-Patent, sondern eine Auszeichnung dafür, dass man den Anschluss an seine polynesischen Wurzeln gefunden hat.

Aber viel wichtiger war Mau Piailugs Bereitschaft, die alte Überlieferungskonvention zu durchbrechen und die Geheimschatulle der archaischen Navigation zu öffnen. Dank seines geteilten Wissens konnte die Hokule’a 1976 auf die Reise von Hawaii nach Tahiti gehen – so wie die Vorfahren 2.000 Jahre zuvor.

Emanzipierte Tradition
Wichtiger, als sich mit Thor Heyerdahl zu verbünden, war es ihnen, den Anthropologen Andrew Sharp zu widerlegen. Er sprach in den 1950ern den frühen Inselbewohnern die Fähigkeit ab, über längere Strecken als 300 Seemeilen gezielt navigieren zu können. Alles nur Blindflug und Zufall.
Diesen Fehdehandschuh griff die Polynesian Voyaging Society auf und erbrachte mithilfe von Mau Piailug den Gegenbeweis. Die Hokule’a fand ihren Weg zielgenau ohne Navigationsinstrumente. Lehua Kamalu kontert Andrew Sharp: „Die Schnellstraße der Kommunikation ist heute das Internet. Für die Bewohner Polynesiens erfüllte die Funktion früher das Kanu!“

Wo bricht der Sonnenstrahl, wo springt der Fisch
Als Kapitänin und Navigatorin auf der Hokule’a hat sie seit 2018 den Pazifik von Hawaii nach Kalifornien und bis nach Südafrika abgesegelt. Mit einer zehnköpfigen Crew aus Segelschülern wiederholte sie im Frühjahr 2022 die Initiationsreise der Hokule’a von Hawaii nach Tahiti, 3.000 Seemeilen in 20 Tagen ohne Navigationsinstrumente.
Die nächste Reise ist schon geplant. Drei Jahre lang wird die Hokule’a ab Frühjahr 2023 zwischen den Anrainerstaaten des Pazifik kreuzen und dafür werben, dass eine Rückbesinnung sehr wohl ein Fortschritt sein kann.

Unser Navigieren ohne Instrumente verbindet den Menschen dagegen auf direktem Weg mit seiner natürlichen Umgebung. Wo bricht der Sonnenstrahl, wo springt der Fisch? Das bringt uns nicht nur zu unseren polynesischen Wurzeln zurück, sondern zu den Wurzeln des Menschseins generell.“