Wer sich hinfortträumen kann, ist eine Königin (oder eine Kapitänin). Man lümmelt auf dem heimischen Sofa und hört die Ozeanwellen am Heck gurgeln. Wichtige Unterstützung kommt dabei von Bildbänden mit starken Fotos.
Solche Fotos können nur FotografInnen schießen, die nicht nur selbst am Heck stehen, sondern auch das Ruder führen. Nicht von außen draufgucken, sondern von innen mitempfinden, das ist genau das Motto von Fotografin und Seglerin Verena Brüning.
Seit 13 Jahren arbeitet sie als freie Fotografin, hat Inuit in Grönland, Werftarbeiter in Costa Rica, Hebammen unter Corona-Bedingungen fotografiert. Am intensivsten verbanden sich für Verena Brüning Fotografieren und Mitmachen bei einem Frauentörn über den Atlantik auf dem Traditionssegler Roald Amundsen. Vorausgegangen war ein Vier-Tage-Törn mit der Roald Amundsen auf der Ostsee von Rostock nach Sassnitz.
Auf der Atlantiküberquerung sind die 47 Frauen 24 Tage aufeinander angewiesen, auf Gedeih und Verderb. Und sie erleben das Glück, sich als Crew einzuspielen. Verena Brüning ist in ihrer einmonatigen Reportage die ganze Zeit mittendrin, als Fotografin und Crew-Mitglied. Die Frauencrew segelt auf der Roald Amundsen von Teneriffa nach Martinique.
Segeln oder nicht segeln?
Der Ausnahmetörn schickt die Frauen auf eine turbulente Achterbahnfahrt der Gefühle. Weltentdeckung und Selbstfindung sorgen für Jubel und Katzenjammer. In Verena Brünings Fotoreportage steigert sich das Segelabenteuer zur Grundsatzfrage über das Leben. Das Segeln stellt die Frage nach dem Sein. Die Fotos versuchen Antworten darauf.
Im Frühjahr 2024 wird ihre Reportage als Fotobuch erscheinen. Das Buch-Format macht den Existenzritt in kompakter Ballung erlebbar. Der Titel „Windsbraut“ gibt die Richtung vor: Der Begriff bezeichnet als Wetterphänomen einen Wirbelwind und als Person eine Femme Fatale. Schönheit im Auge des Orkans. Hinfortträumen, um wachgerüttelt zu werden.
Aus dem Hinfortträumen kann ein Drang zum Handeln erwachsen. Hoch vom Sofa, ran ans Ruder. Das wäre das Stärkste, was sich Verena Brüning als Wirkung ihrer Fotos wünschen würde. Sie selbst möchte noch viel öfter am Ruder stehen, wie sie im Interview erzählt.
Mehr als schön
float: Nach 13 Jahren professionelle Fotografin, siehst du einen roten Faden in deiner Arbeits-Biographie?
Verena Brüning: Mich haben immer Mikrokosmen interessiert: abenteuerliche Orte, an die man so nicht kommen würde, Gruppen am Rande. Da kann man einen Bogen über die 13 Jahre schlagen.
Nach dem Achtungserfolg mit meiner Diplomarbeit über Siedlungen in Ostgrönland habe ich erst mal viele Jahre daran gearbeitet, Aufträge zu bekommen. Große Geschichten habe ich beiseite geschoben, bis ich das Gefühl hatte, jetzt kennen mich die Magazine, jetzt kann ich eigene Geschichten anbieten. Ich kann drei Monate auf ein Schiff gehen, ohne dass die Auftraggeber mich hinterher vergessen haben.
Sollen deine dokumentarischen Arbeiten eher die Schönheit der Welt zeigen oder Missstände aufdecken?
Ich bin keine Fotografin, die in Krisengebiete geht und das Leiden und Grauen in der Welt zeigt. Bei Grönland schwingt es mit. Die Fotos sind schön, aber sie zeigen mehr. Ich habe die Jugendlichen mit all ihren Problemen porträtiert, Alkohol, keine Perspektive, schwindende Traditionen, Clash der Einflüsse. Das wird thematisiert, aber nicht mit dem Zeigefinger darauf. Es ist nicht alles nur schlimm dort, ich habe unglaublich schöne Dinge erfahren. Es herrscht ein ganz anderes Gesellschaftsverständnis, als wir es kennen.
Mit Takt an Deck
Wie gehst du damit um, dass auch dokumentarisches Fotografieren nie neutral ist, immer Inszenierung einschließt?
Ein Bild ist subjektiv, klammert immer etwas aus. Ich entscheide mich für einen Bereich, den ich zeige. Aber in einer Strecke versuche ich, alle Bereiche abzudecken. Ich interessiere mich für das ganze Bild. Da gehören die negativen Seiten dazu. Bei den Segelbildern auf der Roald Amundsen sieht man die Erschöpfung, wie jemand weint.
Andererseits gibt es Stimmungen, die kann man nicht abbilden. Wenn jemand nachts in seiner Koje weint, dann bin ich nicht dabei. Man hat nicht immer Zugang zu allem, auch wenn man gemeinsam viel Zeit verbringt.
Man macht aus einer intimen eine öffentliche Situation?
Auf der Roald Amundsen habe ich nicht von Tag eins mit der Kamera draufgehalten. Es war jemand seekrank und völlig am Ende. Das habe ich nicht fotografiert. Damit hätte ich sofort jegliches Vertrauensverhältnis unmöglich gemacht. Das Vertrauensverhältnis muss man sich erarbeiten. Die Menschen müssen es mehr und mehr okay finden, dass ich mit der Kamera dabei bin.