Jede Branche hat ihre Stars, vom Volk mal bespöttelt, mal beneidet. Was in der Fliegerei die Testpiloten, das sind in der Schifffahrt die Werftkapitäne. Ihre Bedeutung symbolisiert sich in ihrem Seltenheitswert: Wenn Wolfgang Thos seinesgleichen treffen will, schaut er am besten in einen Spiegel.
Es ist ein Beruf, den es etwa so häufig gibt wie Astronauten. Der Job als Werftkapitän ist aber weitaus weniger bekannt. Wozu braucht eine Werft einen Kapitän? Zum Beispiel, wenn das Schiff nicht an Ort und Stelle dem Kunden übergeben werden kann, sondern erst eine 32 Kilometer lange Flusspassage absolvieren muss.
Das ist die immer wiederkehrende Aufgabe für Neubauten der Meyer-Werft. Bis zu dreimal im Jahr ziehen die gigantischen Luxusliner auf der schmalen Ems in Zeitlupe dahin, ihrer Bestimmung entgegen, von tausenden Zuschauern auf den umliegenden Deichen aufmerksam beobachtet.

Er ist dann immer auf dem Posten: Wolfgang Thos. Natürlich kann man allein von dem Dirigat dreier Schiffspassagen nicht leben, auch wenn jedes dieser Projekte inklusive Vorbereitung mehrere Wochen dauert. Daher ist Thos die meiste Zeit des Jahres Emslotse, sein ursprünglicher Beruf.
Ein Lotse, das ist ein zertifizierter Schlaumeier mit eingebautem letzten Wort. Er geht als Fremder an Bord und hat doch das Sagen – wer sonst könnte das von sich behaupten? Zuvor war Thos lange Kapitän – also der mit der Lizenz zum Überstimmen (des Lotsen) und damit im Besitz des wirklich höchstallerletzten Wortes. Wie beim Quartett der Spitzentrumpf: sticht alles.
Darauf angesprochen, ziert Thos sich auch nicht lange: „’n bisschen stolz ist man schon!“ Der Mann ist keine eindruckgebietende Erscheinung, sondern klein und drahtig. Er vermittelt Ruhe, spricht langsam, erst nach längerem Nachdenken. Thos wirkt auch nicht wie einer, der sich oft mit anderen streitet. „Ich bin kein Diktator“, sagt er von sich selbst.


Thos testet die Neuen auf der Nordsee
Er hat die Neuen unter den Fingern, wenn die Farbe gerade trocken ist und kein Alltagsgrau die Euphorie auf der Brücke trübt. „Es macht schon Spaß.“ Und das nicht nur bei Schritttempo: Als Werftkapitän verantwortet Thos mit seinem Team zwar auch das Ausdocken und die Überführung, aber dann fängt der „Spaß“ erst an: Tests auf der Nordsee. „Drehkreise, Stoppstrecken, Notbremsungen – Manöver, die man später nie wieder fährt.“ Hoffentlich.
Es ist nicht so, dass Thos mit Kapitänsstreifen geboren wurde. „Eigentlich wollte ich Pilot werden“, erzählt der Papenburger, der einer Bremer Schifferfamilie entstammt. Thos hob dann aber doch nicht ab, sondern fuhr zur See. Von der Pike auf, als Lehrling auf einem Frachter. Irgendwann möchte man wieder nachhause. Dann kann man zur Wasserpolizei gehen oder zum Zoll, oder man kann Lotse werden.

Für Schiffe über 90 Meter Länge und 13 Meter Breite besteht auf der Ems Lotsenpflicht. Lotsen sind Gleiche unter Gleichen. Der Ältermann vertritt ihre Interessen nach außen, ansonsten hat jeder die gleichen Rechte. Der Unabhängigkeit steht ein anstrengender Job gegenüber: Ein Lotse muss raus, wenn danach gefragt wird, zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter.
Der Seefahrt weint er keine Träne nach
Das ist Thos allerdings gewohnt. Er hat die Seefahrt noch von der Pike auf gelernt. Den guten, alten Tagen der christlichen Seefahrt weint der Bremer aber keine Träne nach: „Ich sag‘ immer: Früher war alles besser, sogar die Zukunft.“ In den 1980er-Jahren sei der Seemannsjob noch völlig anders gewesen. Langwierig, oft nicht kalkulierbar und häufig isoliert von Freunden und Familie.