Wenn Martina Moll und Jochen Meinhold ihre Lebensgeschichte erzählen, fühlt es sich an wie eine Serie von Nackenschlägen, die das Schicksal abgegeben hat. Martina arbeitete in einer gehobenen Position bei einer Krankenkasse – ausgerechnet – als bei ihr vor 30 Jahren Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Nicht viel später verlor sie wegen ihrer Krankheit ihren Job. Nicht viel anders ging es ihrem Lebenspartner und Ex-Pilot Jochen, der bei einem großen Flugzeughersteller arbeitete. Jochen überstand – im Gegensatz zu seinem Arbeitsverhältnis – einen Schlaganfall, der ihn vor zwei Jahren heimsuchte, einigermaßen unbeschadet.
Seitdem sind beide arbeitslos, arbeitsunfähig, Frührentner oder wie immer das auch heißen mag.
Unser Treffen für ein Gespräch auf der Friedrichshafener Messe Interboot zeigt auch gleich, wie schwierig es im Alltag mit Rollstuhl sein kann. Martinas Rolli hatte auf der Messe einen Platten. Ein Servicebetrieb bringt nur kurze Zeit später ein Ersatzrad – darf aber nicht aufs Messegelände, weil er kein Ticket hat. Mit dem Auto vor die Halle schon gar nicht. Also schiebt Jochen seine Martina mitsamt plattem Reifen über die Messe nach draußen, um das Rad wechseln zu können.
Vielleicht hat sich Martina an solche Situationen gewöhnt, vielleicht ist Martina einfach nur wie sie ist – jedenfalls lächelt sie dieses Problem weg. Sie lächelt immer, auch wenn sie ihre teilweise erschütternde Geschichte erzählt. Sprudelnde Lebensfreude im Rollstuhl. Vielleicht liegt ihr stets lachendes Gemüt aber auch daran, dass sie sich gern Lebensträume erfüllt. So zum Beispiel vor längerer Zeit eine Harley Davidson Low, die sie sich kaufte und noch tieferlegen ließ, als sie eh schon liegt. „Ich habe die Maschine gekauft, als ich wusste, dass es bald nicht mehr geht mit Motorradfahren. Immerhin habe ich sie noch 2000 km gefahren. Um sie zu finanzieren, hab ich damals meine Lebensversicherung gekündigt – ich (lacht) brauche die ja nicht mehr.“

Motorradfahren ist nicht mehr drin, wenn man die meisten Zeit im Rollstuhl sitzt und nur ab und zu mal ein paar Schritte gehen kann – je nach Tagesform und je nachdem, ob die MS das gerade zulässt. Segeln dagegen geht noch: „Ich muss ja nur im Cockpit oder unter Deck sitzen. Die Ärzte sagen sogar, dass die ausgleichenden Körperbewegungen beim Segeln gut für MS Patienten sein können.“ Segeln ist Jochens große Leidenschaft. Leider kommen beide zusammen jedoch nie dazu. „Segeln und Behinderte – das ist ein schwieriges Thema. Das will keiner“, sagt Jochen resigniert.


Rückblick. Gleicher Ort – ein Jahr zuvor. Walter Schildhauer, Inhaber des Yachtservicebetriebes Speedwave in Kressbonn am Bodensee, findet sich zwischen Enttäuschung und Wut wieder. Als Hersteller des Segelbootes „mOcean“, das von dem Schweizer Bootssharer „Sailbox“ vermietet wird, hält er zur Interboot 2015 einen Convent ab, in dem es um das Thema Segeln mit Behinderung ging. Von der mOcean hat er extra eine behindertengerechte Version entwickelt, die u. a. über einen Spezialsitz verfügt. „Kaum jemand interessiert sich hier dafür. Kein einziger Verbandsfürst hat sich hier blicken lassen. Die wollen das Thema offenbar nicht.“ Schildhauer hatte Referenten auf der Bühne organisiert, unter anderem eine blinde Seglerin, aber im Publikum saß niemand, der einen der Hebel in der Hand halten kann, um etwas zu ändern, zu verbessern oder gar nur anzuschieben. Walter, Martina und Jochen kennen sich – und die große Barriere, die es bei der Barrierefreiheit offensichtlich gibt.
Die Schwierigkeiten fangen beim Chartern an. „Haben wir nicht im Angebot“, „Die macht mit ihrem Rollstuhl ja das Boot kaputt“, – solche Aussagen sind an der Tagesordnung, wenn die zwei Wahlfriedrichshafener sich um ein Charterboot bemühen. Bei Vereinen sieht das nicht anders aus. „Teilweise sagen die einem ins Gesicht, dass sie kein Interesse an diesem Thema haben“, entrüstet sich Jochen. Martina fügt an, dass auf der Messe der Verkäufer einer Serienwerft offen zugab, dass „Behinderte nicht ihre Zielgruppe seien.“ Immerhin habe ein Yachthersteller reagiert und behindertengerechte Griffe im Cockpit im Angebot.
Chartern? Kaum möglich. Vereinsboote segeln? Erst recht nicht. Also bleibt nur der Kauf. Die Vorstellungen der Zwei sind ziemlich klar definiert: Das Boot sollte hinten offen sein, damit Jochen seine Martina vom Steg auf das Boot tragen kann. Ein paar Griffe wären gut – die kann man aber auch selbst anbauen. Das allerdings würde ein weiteres Problem nicht lösen: Man kommt gar nicht erst an den Steg. Denn auch Häfen nehmen das Thema Barrierefreiheit offenbar nicht so ernst. Im Friedrichshafener Kommunalhafen gibt es keine Möglichkeit, zu den Booten zu kommen. Treppen oder Leitern sind für Martina an guten Tagen zwar zu bewältigen, jedoch überschreitet das die Grenze der Zumutbarkeit. Rampen sind hier laut Martina fast immer Fehlanzeige: „Das ist eigentlich überall so“.

Einzelne Vereine und Organisationen haben sich seit Jahren bereits dem Thema gewidmet. Der Plauer „Hai Live e.V.“ zum Beispiel setzt seine 2.4mr Einmannboote zu Rehazwecken von Querschnittsgelähmten der nahe gelegenen Klinik ein. Diese Boote können per Hand und Fußsteuerung gesegelt werden und bedürfen kaum Segelerfahrung, um vorwärts zu kommen. Martin Doller, Vorsitzender des Vereines: „Wir holen die Leute direkt aus der Rehaklinik in die Boote. Dann segeln sie auf dem Plauer See herum und wenn sie zurückkommen, sind es teilweise andere Menschen. Ihnen wird bewusst, dass sie trotz der Querschnittslähmung noch allerhand machen und erleben können.“ Im Plauer Verein segeln nichtbehinderte und behinderte Menschen zusammen Regatten aus. Es wird dort nicht unterschieden. Immer wieder mit am Start: Heiko Kröger, einer der großes Stars des Segelsports.
Kröger ist für viele sicherlich eine Hoffnung. Immerhin gewann er bei den paralympischen Spielen 2000 die Goldmedaille. Trotz enormer Anstrengungen und Querelen ist das bei „echten“ Olympischen Spielen lange nicht gelungen. Aber die Zugpferdwirkung blieb aus. Weitere Chancen ergeben sich nicht mehr, denn Segeln ist als paralympische Disziplin gestrichen worden. So sah mal in Rio das letzte Mal Segler, darunter natürlich auch Heiko Kröger, unter den bunten Ringen ihre Wettfahrten machen. Segeln und Beeinträchtigungen scheinen sich nicht zu finden.
Es ist angesichts der Überalterung im Wassersportbereich ein Rätsel, warum das Thema Barrierefreiheit im Wassersport so stiefmütterlich behandelt wird. Gerade kaufmännisch gesehen dürften barrierefreie Schiffe den Zugang zu einem großen Markt bieten.
So hoffen Martina und Jochen, dass das Segeln mit Beeinträchtigung in nicht allzu langer Zeit als neues Geschäftsfeld entdeckt wird, mit dem Umsätze generiert werden können. „Vielleicht können wir uns dann noch diesen einen Lebenstraum erfüllen.“