Im Video hört man das Signalhorn hupen, jemand ruft auf Spanisch: „Nein, lass das sein!“ Man sieht einen Segelkatamaran, dessen Besatzung Schüsse ins Wasser abfeuert. Ins Wasser? Sie schießt mit einer Art Druckluftgeschoss auf einen Orca!
Das ereignete sich am 17. August sieben Seemeilen vor Tarifa. Ausgerechnet eine Gruppe Walschützer hatte vom Boot aus den Angriff auf das Tier gefilmt und ins Netz gestellt. Die Täter wurden im Hafen von Almerimar bei Almeria von der Guardia Civil gestellt.

Empört haben nun 35 internationale Wal-Wissenschaftler gemeinsam einen Brandbrief herausgegeben, in dem sie dieses Verhalten aufs schärfste kritisieren. Alle Unterzeichner sind Biologen, die das Verhalten von Walen untersuchen, einige spezialisiert auf Orcas (Schwertwale). Die iberischen Orcas werden in der Roten Liste der Internationalen Union für die Erhaltung der Natur als bedroht eingestuft.
Die Wissenschaftler beklagen, dass in den Medien immer wieder die Rede von aggressivem Verhalten, von Angriffen oder Rache an Seeleuten die Rede sei. Sie stellen fest, dass dieses Narrativ unangemessen menschliche Motivationen auf die Wale projiziere. Sie sind besorgt, dass dadurch weitere Angriffe von Seglern auf Orcas motiviert werden könnten.
Interaktionen statt Attacken
Es begann im Juli 2020. Seitdem hat es hunderte von Interaktionen mit Segelbooten an der spanischen und portugiesischen Küste und der Meerenge von Gibraltar gegeben. Die Orcas haben es vor allem auf Segelboote abgesehen, deren Ruder sie beschädigen und die Boote damit manövrierunfähig machen. Die Wissenschaftler sprechen bei diesen Kontakten zwischen Orcas und Booten bewusst nicht von Attacken, sondern von Interaktionen, weil die Beweggründe der Meeressäuger noch nicht vollständig geklärt sind. Sie geben zu bedenken, dass die Wale während der Interaktionen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen zeigen, von denen viele mit spielerischem Sozialverhalten vereinbar sind.

Bis heute wurden von den Wissenschaftlern mindestens elf Jungtiere und vier erwachsene Weibchen identifiziert, die an den Interaktionen beteiligt waren. Es gibt offenbar weniger als 40 Individuen in dieser Population. Sie stellen eine geografisch isolierte, genetisch getrennte Teilpopulation dar, die sich hauptsächlich von rotem Thunfisch ernährt.
Bei den Interaktionen konnte von den Forschern kein „Anführer“ identifiziert werden. Sie haben die Gruppe von 15 Tieren „Gladis“ getauft. Jedes Tier hat einen individuellen Namen: Gladis Blanca oder Gladis Negra. Gladis Negra, ein junges Weibchen – und eines der anfangs gemeldeten interagierenden Tiere – fiel im Frühjahr 2020 mit einer Kopfverletzung und einer Wunde hinter der Rückenflosse auf. Beide Verletzungen waren von unbekannter Herkunft.
Nur eine Mode?
Die Interaktionen reichten von keinem Kontakt mit dem Schiff bis hin zu erheblichem Kontakt mit schweren Schäden. Ohne Kontakt verlief die Orca-Begegnung für ein deutsches Seglerpaar im Skagerrag. Schwere Schäden sind nur bei 20 Prozent der Begegnungen aufgetreten. Seit Frühjahr 2021 sind mindestens fünf beschädigte Schiffe gesunken.
Während einige Teile der Schiffe nur selten Zahnabdrücke aufweisen, so die Walforscher, sind die meisten Schäden an Rudern und Kielen auf Schläge oder Stöße mit dem Kopf oder Körper zurückzuführen. Die Wale reißen die Ruder nicht auseinander, wie sie es täten, wenn sie jagen würden. Obwohl das Verhalten aus menschlicher Sicht beängstigend und kostspielig sein mag, scheint es aus Sicht der Wale irgendwie befriedigend zu sein, schreiben die Wissenschaftler in ihrem offenen Brief.

Orcas (und andere Delfin-Arten) sind dafür bekannt, dass sie kulturelle „Modeerscheinungen“ entwickeln. Neuartiges Verhalten setzt sich innerhalb einer Population kurzzeitig durch und breitet sich aus. Die Interaktionen mit Segelbooten scheinen ein ähnliches Phänomen zu sein. Auch wenn es schon länger besteht als eine typische Modeerscheinung, ist es möglich, dass es so plötzlich wieder aufhört, wie es begann.
Im Reich der Meeresbewohner
Die Forscher fordern die Öffentlichkeit dringend auf, menschliche Projektion auf diese Tiere zu vermeiden. Man solle nicht annehmen, dass man die Beweggründe der Tiere verstehe. Der Orca ist eine intelligente, sozial komplexe Spezies, und jede Population hat ihre eigene Kultur. Sie entwickeln unterschiedliche Dialekte, Beutevorlieben, Jagdtechniken und sogar unterschiedliche Sozialstrukturen und Wanderrouten.
Das Verhalten dieser Gruppe von Schwertwalen hat es so noch nie gegeben. Selbst zu Zeiten des industriellen Walfangs mit Holzschiffen, als weitaus größere Wale dafür bekannt waren, Schiffe zu zertrümmern oder anderweitig zu beschädigen, waren solche Vorfälle relativ ungewöhnlich.
Die Wissenschaft kann noch nicht wirklich erklären, warum die iberischen Orcas sich so verhalten, gehen aber davon aus, dass es eher mit Spiel und Sozialisierung als mit Aggression zu tun hat. Zu behaupten, es handele sich um Rache für vergangenes Unrecht, lehnen die Forscher als Begründung ab. Auch Thomas Käsbohrer kommt in seinem Sachbuch Das Rätsel der Orcas zu dieser Einschätzung.
„Wenn wir auf See sind, befinden wir uns im Reich der Meeresbewohner. Wir sollten Wildtiere nicht dafür bestrafen, dass sie wild sind“, heißt es im Schreiben der Wissenschaftler. „Wir müssen unser eigenes Handeln und Verhalten an die Anwesenheit von Wildtieren anpassen. Das Überleben der Arten, mit denen wir diesen Planeten teilen, hängt davon ab.“
Auf der Seite von GT Orca Atlantica werden man die Walbewegungen monatlich dokumentiert.