In einer Zeit, in der wir selbst im Hafen festliegen, können andere für uns reisen. So machte es Hugo Pratt: Der italienische Autor hat regelmäßig einen Freund aufs Meer hinaus geschickt – an Orte und in Epochen, von denen er selbst träumte. Der Freund ist ein Seemann: Corto Maltese.
Er, trägt blauen Caban und weiße Schirmmütze, und stellt mit Backenbart, goldenem Ohrring und stets leicht amüsierter Skepsis in der Miene eine unwiderstehliche Coolness zur Schau, um die wir ihn insbesondere in diesen Tagen herzhaft beneiden.
Ein wortkarger Zeitzeuge
Der wortkarge Zweifler, dessen Abenteuer seit 1967 in Millionenauflage weltweit das Publikum begeistern, ist nicht zufällig auf allen Weltmeeren zuhause: „Pratt hat sich für einen Seemann entschieden, weil er die Art von Charakter war, die auf die natürlichste Weise aus seiner Welt der jugendlichen Erinnerungen und seines kulturellen Universums kam“, so seine langjährige Mitarbeiterin und Freundin Patrizia Zanotti zu float.
Denn der Autor, geboren 1927, wuchs in Venedig auf: In dieser Stadt der Wunder, die damals auch „ein großartiger Hafen war, von dem aus man aufbrechen und zu träumen beginnen konnte“, sagt Zanotti. „Hugo Pratts Leben war immer sehr gebunden ans Meer und an die Bewegung des Wassers.“
Pratt kannte die Seefahrt
Pratt wusste also, wovon er schrieb und zeichnete. Er kannte die Widrigkeiten der Elemente, die Probleme des Kurshaltens und der Navigation in unbekannten Gewässern. Und er machte sie zur Metapher für ein ganzes Leben. „Er konnte durch die Abenteuer eines Matrosen die Dinge zeichnen, die er am meisten liebte, wie die Bedeutung des Reisens“, so Zanotti. „Das langsame Verstreichen der Zeit an Bord eines Segelschiffs, die Stille, die Möglichkeit, ferne Inseln zu erreichen, auch im metaphorischen Sinne des Begriffs.“ Das heißt: „Kulturen und unbekannte Gewohnheiten, Freundschaft und die Notwendigkeit der Komplementarität jedes Besatzungsmitglieds.“

Letztlich habe Pratt wohl gedacht, so vermutet Zanotti, dass es schön wäre, wichtige Konzepte auf die leichte Schulter zu nehmen. Also: wichtige historische Ereignisse als Comic-Geschichte zu zeichnen und die Größe oder menschlichen Fehler jedes seiner Charaktere mit großer Ironie zu behandeln.
In den bewegtesten Zeiten
Und menschliche Schwächen, Leidenschaften, Abgründe sind ein wesentlicher Bestandteil der Abenteuer Cortos, die in den bewegtesten Zeiten spielen. Der Kapitän ohne Schiff, der sich durch das Geschehen treiben lässt, wird Zeuge der russischen Revolution. Er erlebt Episoden beider Weltkriege, gerät in große und kleine Machtspiele – und bleibt doch immer Beobachter. Er ist der distanzierte Zeitzeuge und zugleich Rebell im Kampf für die Schwachen und Unterdrückten.
Ein knappes Vierteljahrhundert lang scheucht sein Schöpfer ihn zu Abenteuern in der ganzen Welt. Er verdingt sich als Pirat im Pazifik, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs Kohlefrachter aufbringt und die Ladung an die Deutschen verkauft. Und nicht nur das.
Er ist auf der Suche nach dem Gold der Zaren in Sibirien oder nach dem Schatz Alexanders des Großen bis in die legendären Städte der Seidenstraße. Er begibt sich auf Verbrecherjagd in Argentinien, zu den Voodoo-Priestern in der Karibik oder zu den irischen Freiheitskämpfern.

Pratts Abenteuer in Afrika
Auch nach Afrika: Tansania, Somalia und nach Äthiopien. Letzteres war von Italien als Kolonie Abessinien annektiert worden und Schauplatz von Pratts eigenem Abenteuer: Denn dorthin kam er als Kind, nachdem sein Vater für die faschistische Regierung eine Stelle in der Kolonialverwaltung angenommen hatte. „Ich wusste noch nicht, dass das Spektakel dieser Welt einmal für mich als Zeichner mein lebendiges Archiv sein würde. Ich war dreizehn Jahre alt!“, berichtet er in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie „Warten auf Corto“. Auch ein lebendiges Archiv verzeichnet Todesfälle: Der Vater überlebt den Zweiten Weltkrieg nicht; er stirbt in einem britischen Gefangenenlager.

Pratt aber schöpft lange aus diesen Erinnerungen: Er beginnt damit nach der Rückkehr aus Afrika, als er sich 1945 in Venedig an der Akademie der Schönen Künste einschreibt. Noch während des Studiums beginnt er Abenteuergeschichten zu zeichnen und gründet dafür mit Freunden ein eigenes Magazin, Asso di Pique, Pik Ass. 1949 holt ein argentinischer Verleger, der das Talent Pratts erkannt hat, die Gruppe nach Buenos Aires. Doch nach zehn Jahren kehrt Pratt nach Europa zurück.
Keine Identifikationsfigur
Für den Corriere dei Piccoli, die Jugendbeilage der Tageszeitung Corriere della Sera, setzt er anfangs Klassiker wie die Odyssee oder Die Schatzinsel in Bildergeschichten um, bis er schließlich 1967 seinen großen Helden, sein Alter Ego erfindet.
„In Hugos Träumen ist Corto kein Held, mit dem man sich identifiziert, sondern ein Freund für gemeinsame Abenteuer. Das war für ihn wohl Ausdruck einer libertären und anarchistischen Utopie. Er selbst war Libertin und Anarchist. Aber kompromisslos als solcher zu leben war ihm nicht möglich. Wohl aber Corto“, erzählt Didier Platteau, Freund und Verleger Pratts, in der Video-Dokumentation von Thierry Thomas aus dem Jahr 2015.
Zanotti vergleicht die Beziehung zwischen dem Seefahrer und seinem Schöpfer wie eine „Freundschaft zwischen zwei Matrosen, die sich gelegentlich in einem Hafen treffen und gemeinsam zu einem neuen Abenteuer aufbrechen.“
„Lasse ihn lange in Ruhe“
„Ich lasse ihn für lange Zeit in Ruhe, in der er gehen kann, wohin er will, und ich kann mich dem Erzählen widmen.“ Pratt führte ein respektvolles und freundschaftliches Verhältnis zu seinem alter Ego, das „ein bisschen Pratt selbst war, aber vor allem eine Summe der Charaktere vieler Freunde, die er während seines Lebens in Venedig, in Äthiopien, und in Buenos Aires traf. Und das Ergebnis aus den Tausenden von Seiten von Büchern, die er gelesen und aus den vielen Filmen, die er gesehen hatte.“


„Wahrscheinlich ist Corto im Laufe der Jahre berühmter geworden als sein Schöpfer, eine Ikone der Freiheit und des Respekts für andere Kulturen. Pratt wäre auf ihn heute stolz und glücklich, sicherlich nicht eifersüchtig“, sagt Zanotti.
Viele historische Größen
Corto ist aber nicht nur ein Abenteurer, er ist ein beständiger Charakter in einer Zeit der Umbrüche, Revolutionen und Anfänge: Seine Abenteuer beginnen 1905 in Mukden, dem heutigen Shenyang, im Russisch-Japanischen Krieg. Der markiert den Beginn des Endes des Russischen Zarenreichs und des Aufstiegs Japans als Großmacht im Osten. Jahre später kehrt er in den fernen Osten zurück. Inzwischen ist das Zarenreich untergegangen und mit den Kommunisten betritt eine neue Macht die Weltbühne.
Er erlebt, wie in den Schützengräben in Frankreich und Flandern die alte europäische Weltordnung sich selbst zerstört – er sieht in Afrika das Kolonialsystem zerfallen. Er reist durch den Mittleren Osten, der gefangen ist zwischen dem Untergang des Osmanischen Reichs, dem letzten Aufbäumen der europäischen Hegemonialmächte und den ersten Anzeichen der aufstrebenden Sowjetmacht. In Venedig legt er sich mit den Faschisten an. Das ist sicher eine Auseinandersetzung Pratts mit der eigenen Familiengeschichte: Sein Großvater mütterlicherseits, der Dichter Eugenio Genero, war ein Faschist der ersten Stunde.
Griff in die Familienchronik
Ohnehin vermischt der Autor gern seine Familiengeschichte mit der seines Protagonisten: Wie Corto wächst auch Pratts Vater ohne Vater auf. Großvater Giuseppe starb im Ersten Weltkrieg an der Spanischen Grippe – auf einer Bahre liegend, während er eine Flasche Wein, die er versteckt hatte, über einen Schlauch leer nuckelte. „Besoffen und zufrieden“, notiert der Enkel, habe der Großvater sein Dasein beendet.

„Er unterrichtete am Istituto Ravà in Venedig, irgend so eine Judensache“, erzählt Pratt. Die Kabbala vielleicht? Jene mystische Schrift der Juden, die Pratt seinen Helden Corto intensiv in seiner Jugend studieren lässt – allerdings nicht in Venedig, sondern in seiner angeblichen Geburtsstadt Valetta auf Malta, wo Corto am 10. Juli 1887 zur Welt kam. „So hat man es mir jedenfalls erzählt“, sagt Corto-Pratt in einer Sprechblase.“
Seine Mutter war eine Zigeunerin aus Sevilla, sein Vater ein Seemann aus Tintagel in Cornwall – er „kam und ging ständig und kam mit der Zeit immer seltener.“ Pratt stammt selbst aus einer kosmopolitischen Familie mit britischen, türkischen, jüdischen und provenzalischen Wurzeln.

Flucht in eine Traumwelt
Gern vermischt Pratt auch Erfundenes mit Wirklichem, lässt Traum und Reales ineinander fließen. Eine Geschichte beginnt mit den Worten: „In Venedig gibt es drei geheimnisvolle Orte: einen in der Calle Dell Amor Degli Amici, der Straße der Freundschaft, den zweiten nahe der Ponte Delle Marvegie, der Wunderbrücke, und den dritten in der Calle Dei Marrani, im alten Ghetto bei San Geremia.
Sind die Venezianer des Alltags überdrüssig, suchen sie diese Orte auf, durch deren Hinterhoftüren sie auf eigenartige Weise in andere Welten entschwinden…“ Der Kalender zeigt den 34. Dezember des Jahres 1918 – „Vielleicht haben wir etwa verpasst?“, fragt Corto.

Gegen Ende seines Schaffens werden Pratts Geschichten immer traumhafter und mystischer: Cortos vorletztes Abenteuer, erschienen 1987, spielt fast vollständig im Reich des Imaginären: Auf dem Weg zu einem Alchemisten-Kongress in der Schweiz erlebt er im Haus des Schriftstellers Hermann Hesse ein wildes Traumabenteuer – und lässt sich nach dessen Ende von der polnischen Malerin Tamara de Lempicka nach Zürich chauffieren. Im letzten Band der Reihe schließlich begibt Corto sich – es ist das Jahr 1925 – auf die Suche nach dem sagenhafte Kontinent Mu.
„Ich bin Traumhändler“
Für Pratt offensichtlich kein Widerspruch, er stand dem der Traum ebenso nahe wie der Realität. Noch einmal Platteau: „Er sagte oft: Ich bin Traumhändler, ich muss Träume verkaufen, nicht wahr? Er wiederholte das ständig. Ebenso wie: Das wahre Leben ist der Traum, nicht die Realität. Wir leben im Traum.“


Das Reich Mu erschien als Serie zwischen 1988 und 1991 und gehört zu den letzten Werken Pratts. Er stirbt am 20. August 1995 in Grandvaux am Genfer See an Krebs. Sein Held zieht es vor zu verschwinden: In einem seiner anderen Comics, den Wüstenskorpionen, lässt Pratt quasi nebenbei den Charakter Cush auftreten, den Corto einst 1918 im Jemen getroffen hatte. Pratt liebte diese Scharaden. Corto Maltese sei tot, sagt Cush dort, „offensichtlich im Spanischen Bürgerkrieg gefallen“. Laut der fiktiven Biografie auf der Website des Verlags jedoch lebt Corto im Ruhestand bei der Familie einer alten Freundin. Aber kann ein Corto ausruhen? Ruhe findet einer wie er doch nur auf See.
20 Jahre nach Pratts Tod
Vielleicht lösen ja zwei Spanier das Rätsel: 20 Jahre nach Pratts Tod haben der Szenarist Juan Dóaz Canales und der Zeichner Rubén Pellejero seinen Platz eingenommen. Drei neue Corto-Bände haben sie bereits erschaffen, der letzte erschien Anfang März. Allerdings behandeln die bisher nur Cortos frühere Lebensjahre. Sein Alter, so scheint es, ist auch für Pratts Nachfolger ein ziemlich schroffes Riff, das man besser weiträumig umschifft. Es passt ja auch nicht wirklich zu einem ewig jugendlichen Charakter.
Seine Weggefährtin Patrizia Zanotti: „Die Leichtigkeit von Pratts Geschichten zu erlesen ist so, wie in einem Segelboot über das Meer zu gleiten oder wie der Flug einer Möwe – führt uns weit weg, und ohne dass wir es merken, kann es uns helfen, uns selbst besser zu verstehen und was wir wirklich brauchen.“ Gerade in Zeiten wie diesen ist Träumen ein gutes Rezept, um über den Tag zu kommen.