Wozu in die Ferne schweifen? Abenteuer und Schätze hat fast jedes Revier zu bieten, wir müssen uns nur nach ihnen bücken. Im Fall der „Lutine“ würden wir dann allerdings den Kopf in den Sand stecken. Denn die britische Fregatte, die vor 223 Jahren mit ihrer tonnenschweren Ladung an Silber- und Goldbarren Schiffbruch erlitt, liegt inzwischen viele Meter tief im Watt der Nordsee.
Immer wieder wurden Versuche unternommen, die Millionen zu bergen. Doch endgültig hat das bis heute niemand geschafft. Das heißt: Es ist also noch etwas da.
Die wahre Geschichte, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen, beginnt im Herbst 1799. Keine gute Zeit, weder zu Lande noch zu Wasser: Frankreich unter Napoleon breitet seinen Machtbereich immer aggressiver aus in Europa. England schießt mit wechselnden Bündnispartnern dagegen. Im Sommer besetzt eine britische Armee Holland und erobert dabei viele niederländische Kriegsschiffe.
Auch die Fregatte „Lutine“ ist ein Beuteschiff, allerdings kommt sie von der französischen Flotte. Und sie ist schon lange in britischen Diensten. 1778 in Toulon auf Kiel gelegt, ist das Schiff zwar nicht mehr brandneu. Es gilt aber als seetüchtig und hat sich erst kürzlich bewährt. Der Dreimaster mit 600 Tonnen Verdrängung hat die elf eroberten Holländer nach England geleitet.
Der Spezialauftrag wird zum Desaster
Im Herbst erhält ihr Captain Lancelot Skynner einen Spezialauftrag. Er soll dabei möglichst keinen Schuss abgeben, denn das Unternehmen muss in aller Stille und größter Eile vonstatten gehen. Es betrifft eine diskrete Finanzhilfe.

In Hamburg bahnt sich aufgrund des andauernden Krieges und des schlechten Seewetters in diesem Sommer 1799 eine Krise an: Zahlreiche Bankhäuser sind am Rande der Zahlungsunfähigkeit. In England stapeln sich Handelsgüter im Hafen, die Börsen in London und Hannover mussten mangels Liquidität schon mehrfach schließen. Einigen Quellen zufolge soll überdies Sold für britische Truppen zum Kontinent verschifft werden. Die 44 Meter lange und 21 Jahre junge „Lutine“ dient also als Geldtransporter.
Skynner ist kein Seeheld, aber ein erfahrener Offizier der Royal Navy: Mit 33 Jahren hat er die meiste Zeit seines Lebens in des Königs Rock und auf dem Wasser verbracht. Bereits als 13-Jähriger tritt er in die Marine-Laufbahn ein. An Bord der Fregatte „Brilliant“ unter Captain John Ford riecht er bei der Belagerung Gibraltars durch französische und spanische Einheiten erstmals Pulverdampf.
Er überquert mit 21 als Leutnant bereits zum dritten Mal den Atlantik. In mehreren Kampfeinsätzen bewährt er sich. Seit September 1795 hat Skynner das Kapitänspatent. Die „Lutine“ ist sein drittes Kommando. Warum fällt die Wahl zum Werttransport auf die kleine Fregatte? Vielleicht einfach nur, weil sie gerade frei ist. Außerdem: Skynners Verlobte soll die Tochter eines reichen Londoner Kaufmanns sein. Das könnte den Ausschlag gegeben haben.

Wagenladungen voll Goldbarren
Tagelang erreichen Wagenladungen mit Gold- und Silberbarren ebenso wie Fässer voller Münzen die britische Hafenstadt Great Yarmouth an der Nordsee. Versichert wird diese unschätzbar wertvolle Fracht von Lloyd’s of London. Das ist naheliegend: Gesellschafter des Schiffsversicherung sind auch die bedeutendsten Kaufleute der City of London. Und von denen stammt die Finanzspritze.
Im Hafen brodelt derweil die Gerüchteküche: Sogar die Kronjuwelen des niederländischen Königshauses und Sold für britische Soldaten auf dem Kontinent sollen an Bord sein. Und einige private Passagiere nimmt Captain Skynner auf seiner Mission noch dazu mit.
Am 9. Oktober legt die „Lutine“ bei leichtem Westwind ab in Richtung Cuxhaven. Doch dort werden sie und ihre 240 Mitreisenden nie ankommen. (240 Menschen auf einem 44-Meter-Schiff! Wenn heute 20 Menschen auf solch einem Segler unterwegs sind, kommt es einem gedrängt vor.) Darunter sind auch mehrere Frauen und ein Baby. Das Wetter, das im Sommer 1799 insgesamt lausig war, bleibt auch im Herbst unbeständig. Im Laufe des Tages frischt der Wind immer mehr auf. Schlimmer noch: Er dreht auf Nord-Nord-West.
Sturmböen peinigen das Schiff
Am frühen Abend, inzwischen peinigen Sturmböen und heftige Regenschauer die „Lutine“, gerät das Schiff offenbar in große Schwierigkeiten. Denn der Captain entscheidet sich nun, die Insel Texel anzulaufen. Gibt es einen Wassereinbruch oder ein Problem mit dem Rigg? Die südlichste westfriesische Insel ist das erste Land, nach dem Skynner greifen kann – ganz offensichtlich braucht er einen Nothafen.

Doch den findet er nicht mehr. Was genau seine Navigation fehlschlagen lässt, bleibt unklar. Die Fregatte befindet sich auf Legerwall, wird vom Wind in Richtung der friesischen Küste getrieben. Einem erfahrenen Kapitän wie Skynner muss die Gefahr einer Leeküste klar sein. Hat er die Abdrift falsch berechnet? Oder einfach keine andere Wahl? Anzunehmen ist jedenfalls, dass das Wetter die genaue Positionsbestimmung unmöglich macht.
Skynners Schiff steuert oder driftet manövrierunfähig an Texel vorbei, weiter nach Osten. Erkennt jemand an Bord das nahende Unheil? Zu allem Unglück ereignet sich der Landfall bei Nacht. Es gibt zwar schon ein Seezeichen, den 54 Meter hohen Brandaris-Leuchtturm. Er ist bereits 1594 in Betrieb gegangen und der älteste Leuchtturm der Niederlande. Sein Licht am Südzipfel von Terschelling kann heute bis zu 52 Kilometer weit gesehen werden.
Möglich, dass sie auf der „Lutine“ in dieser höllischen Nacht das Licht ausgemacht und eine Ansteuerung versucht haben. Doch die See kocht so heftig, dass die nahende Brandung wohl erst zu spät wahrgenommen wird.

Der Sturm zerschlägt das Schiff
Die „Lutine“ geht zwischen den Nachbarinseln Terschelling und Vlieland auf Grund. Rund zwei Seemeilen von den Inselküsten entfernt spielt sich eine Tragödie ab. Das Ijzergat ist ein schmaler Durchlass zwischen Sandbänken, heute existiert dieser natürliche Abfluss bei Ebbe nicht mehr. Denn wie auch andernorts an der Nordseeküste ist der Meeresboden hier dauernd in Bewegung.